Ein Jahr mit vielen Schreckensbildern geht zu Ende. Wie kannes gelingen, sie auch zu verarbeiten?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - E s war an einem Samstagmorgen im März. Im Fernsehen ist über dem Atommeiler plötzlich eine Wolke zu sehen. Das Bild ist unwirklich und bizarr; die Kamera steht sehr weit vom Ort entfernt und zeigt das Kraftwerksgelände fast durchweg in stiller Daueraufnahme. Der Himmel ist trügerisch klar. An sich wirkt alles geometrisch sauber gegliedert. Die Wolke über allem wächst dagegen ungeordnet, amorph. Sie zeigt, dass an diesem Ort und zu dieser Zeit gerade etwas sehr gründlich schief läuft. Die Nuklearkatastrophe von Fukushima wird am Morgen des 12. März 2011 auch für den deutschen TV-Zuschauer durch die Aufnahmen der Wolke real. Denn von Katastrophen müssen wir uns ein Bild machen. Sonst bleiben sie irreal.

 

Informationen gibt es zu diesem Zeitpunkt kaum. Der Betreiber der Kraftwerksanlage veröffentlicht gar keine Erklärungen oder beschwichtigt. Die japanische Regierung behauptet, über keine genaueren Informationen zu verfügen. Somit schlägt die Stunde der deutschen Experten, die in eilig anberaumten Sondersendungen aufgrund des spärlichen Bildmaterials ihre Ferndiagnosen abgeben. Alle reden lang und viel, denn keiner traut sich, zu erklären, dass es eigentlich gerade nicht viel zu sagen gibt. Zu reden, und sei es noch so sinnarmen Inhalts, erscheint tröstlicher, als zu verstummen. Die Alternative hieße, die Gegenwart der Bilder von der Katastrophe, also ihre eigene Gegenwart, einfach nur auszuhalten.

Das zu Ende gehende Jahr war quälend reich an derart überwältigenden Katastrophenbildern. Die Anschläge in Oslo und der Massenmord in einem Jugendcamp gehören ebenso dazu wie die wochenlange angestrengte Suche in Deutschland nach der Quelle einer lebensbedrohlichen Magen-Darm-Erkrankung. Dass eine rechte Mörderbande quer durch Deutschland Menschen umbrachte, Banken ausraubte, Angst und Schrecken verbreitete, geschah jahrelang im Verborgenen (so jedenfalls die offizielle Verlautbarung). Doch im Moment, da zwei der Bande sich umbringen und möglichst viele Spuren mit einem Brand vernichten wollen, entstehen sie noch, die Bilder einer Katastrophe, die die deutsche Innenpolitik erschüttern. Die vielen häufig verwackelten Handyvideos aus arabischen Ländern schließlich, die dokumentieren, wie Schergen diktatorischer Regime Jagd auf demonstrierende Bürger machen, sind erst recht Katastrophenbilder – wer weiß denn wirklich, wohin solche Verhältnisse noch führen werden?

So machtvoll die Bilder realer Katastrophen auch sind, so leicht sie sich dank der neuen Medien auch über die ganze Welt ausbreiten – im Kontrast dazu bleibt ihre direkte Wirkung erstaunlich kurzfristig. Ob Oslo oder Ehec: die in diesen Tagen auf allen Kanälen so gern ausgestrahlten Jahresrückblicke zeigen, wie fern uns diese Ereignisse schon wieder sind. Und obwohl das Bild der Wolke über Fukushima an Deutlichkeit noch immer nichts zu wünschen übrig lässt, darf man bezweifeln, ob der im Frühjahr beschlossene Atomausstieg der Deutschen ein Dreivierteljahr später noch immer so unkompliziert durchzusetzen wäre. Ein Paradoxon: die Bilder kommen immer schneller, immer massiver, immer drastischer – aber wir haken sie auch immer zügiger ab. Weil wir besser im Verarbeiten geworden wären?

Das ist natürlich ein Irrtum. Unsere Angst vor der Katastrophe, also die plötzliche, nicht mehr zu beherrschende Aufhebung all unserer Sicherheiten und Gewissheiten, womöglich unserer Existenz, steckt so tief im kollektiven Bewusstsein der Menschen wie nur wenig anderes. Deswegen sind Kunst und Kultur so reich an Katastrophengeschichten jedweder Art. Ob Mythen, Musik oder Spiel – noch viel häufiger als zum Ausmalen schöner Dinge nutzt der Mensch seine künstlerischen Fähigkeiten, um das Schreckliche zu beschwören.

Angst steckt tief in uns

Ja, das ist es: Kunst und Kultur sollen nicht nur unsere Träume von Paradiesen, sondern auch unsere Ängste vor Katastrophen beschwören – indem wir von ihnen berichten, sie uns ausmalen, die Möglichkeiten menschlichen Handelns in größter Not ausloten. Bei den Katastrophengeschichten der Kultur ist zudem etwas möglich, was als Reaktion bei den Katastrophen der Wirklichkeit zweifellos als Zynismus anzuprangern wäre: Im Märchen und auf dem großen Gemälde, in der Oper, im Kino oder im Krimi kann es sogar lustvoll sein, sich den Schrecken der Katastrophe auszusetzen. Denn es ist ja nur ein Spiel.

Es bleibt im Übrigen auch Kunst und Kultur vorbehalten, Bilder zu finden für Katastrophen, die für uns im Realen weitgehend unbebildert bleiben – und daher letztlich lange Zeit sogar irreal. Fast das ganze Jahr 2011 hindurch haben wir die massenhafte Vernichtung volks- und privatwirtschaftlicher Werte im Zuge der Schulden- und Währungskrise erlebt, eine weitere Katastrophe jüngerer Zeit. Doch gibt es außer abstrakten Zahlenkurven und besorgten Politikermienen dafür irgendein Bild? Und weil es dafür kein kraftvolles Bild gibt, gibt es deswegen womöglich für viele Menschen auch gar keine Katastrophe?

Da ist die Kunst den Wirklichkeits-Medien längst voraus: Thomas Mann, „Buddenbrooks“, Untertitel: „Verfall einer Familie“. Hier steht schon alles drin. Um endlich wieder forsche Führungskraft zu gewinnen, lässt sich Thomas Buddenbrook auf ein Geschäft ein, das ihm von seiner Natur her bisher widerstrebt hat. Er kauft einem verschuldeten Mecklenburger Gutsbesitzer die Ernte bereits im Frühjahr, also „noch auf dem Halm“ ab; zu überbilligem Preis, versteht sich, um sie dann im Herbst mit übergroßem Gewinn auf dem Markt verkaufen zu können. Es fügt sich, dass just in diesem Sommer die Firma Buddenbrook ihr Hundertjähriges feiert, was mit großem Aufwand im stattlichen Familienhaus gefeiert wird. Die ganze Lübecker Oberschicht ist versammelt zu diesem strahlenden Ereignis und macht gute Figur beim Empfang im Treppenhaus und in den vielen Salons, obwohl sie insgeheim unter der drückenden Schwüle des Julitages leidet.

Alles, was Thomas Mann nun braucht, um ein Bild für die Katastrophe zu finden, ist – eine Wolke: „Die Hitze hatte noch zugenommen, sie war noch drückender geworden; aber Regen war nun nicht mehr ausgeschlossen, denn den Schatten nach zu urteilen, die über das Oberlicht hinwegzogen, waren Wolken im Himmel. Ja, diese Schatten waren so häufig und folgten einander so schnell, dass die beständig wechselnde, zuckende Beleuchtung des Treppenhauses schließlich die Augen schmerzen machte. Nur einmal verweilte der Schatten ein wenig länger als gewöhnlich, und unterdessen hörte man mit leicht prasselndem Geräusch und in längeren Pausen fünf-, sechs- oder siebenmal etwas Hartes auf die Scheibe des Oberlichtes niederprallen: ein paar Hagelkörner ohne Zweifel. Dann erfüllte wieder Sonnenlicht das Haus von oben bis unten.“ Die Gesellschaft nimmt kaum Notiz.

Jeder Leser weiß bereits an dieser Stelle, wo statt in Lübeck das ganz große Unwetter niedergegangen ist. Drei Seiten später kommt, rein zur Bestätigung, ein Bote mit einem Telegramm in die Festgesellschaft gelaufen. Absender: ein Gutshof in Mecklenburg. Das kann die Kunst. Wer diese Stelle gelesen hat, der braucht kein Fernsehbild dazu, um doch zu wissen, wie die Katastrophe einer Wertvernichtung aussieht – und was uns womöglich blüht.