Das hat es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben: Ein Papst tritt zurück. Benedikt XVI. erstaunt alle damit, weil er seine Kräfte schwinden sieht. Das Scheitern vieler seiner Ambitionen und die Skandale in der Kirche haben ihm schwer zugesetzt.

Rom - Es ist Festtag im Vatikan. Die „Selige, Immerwährende Jungfrau Maria von Lourdes“ soll an diesem Montag gefeiert werden. Und weil am 11. Februar vor 84 Jahren auch die „Lateran-Verträge“ mit Italiens Duce Mussolini geschlossen worden sind, darf der Kirchenstaat gleich auch noch seinen Geburtstag begehen. Feierlich sind viele „Herren Kardinäle“ um Papst Benedikt XVI. versammelt; gemeinsam wollen sie die Heiligsprechung von 800 „Märtyrern des Glaubens“ ausrufen. Doch am Ende der dreiviertelstündigen Zeremonie ändert sich mit einem Schlag alles. Ändert Benedikt alles. Die Weltlage. Nicht nur die vatikanische.

 

Wenn überhaupt einer gewusst hat, was da im Anzug war, dann der Dekan des Kardinalsgremiums, Angelo Sodano. Den Rest des Vatikans, die gesamte katholische Kirche, die Journalisten trifft die Ankündigung des Papstes komplett unerwartet. Selbst der Pressesprecher, Pater Federico Lombardi, hat sich noch nicht richtig gefangen, als er eine Stunde später der Weltpresse erklären soll, was da war. Heiter wirkt er – doch sein auffälliges Kichern scheint eher der Verlegenheit geschuldet, der großen Ratlosigkeit, als irgendeiner Erleichterung oder gar Freude.

Einen Rücktritt hat es seit Jahrhunderten nicht gegeben

Die emotionelle Bewegtheit, die dem vatikanischen Pressesprecher immer mal wieder die Stimme brüchig werden lässt – dem Papst selber war sie nicht anzumerken, als er ankündigte, was es in der Kirche schon seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte: den Rücktritt eines Papstes. Merklich kleiner, dünner geworden ist der körperlich schon immer zart gebaute Joseph Ratzinger bereits in den vergangenen Monaten. Aber als er jetzt mit seiner dünnen Stimme diese kurze Erklärung verliest, da verschwindet er schier unter dem Goldbrokat der breiten, roten Stola, die er als Zeichen seiner Würde um den Hals trägt.



Lateinisch spricht Benedikt XVI. Es ist die Sprache der Universalkirche, es ist seine Heimat. „Conscientia mea iterum atque iterum coram Deo explorata . . .“ Immer und immer wieder, sagt er, habe er sein Gewissen im Angesicht Gottes erforscht und sei dabei „zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte, des vorgerückten Alters wegen, nicht mehr ausreichen, das Amt des Petrus in geeigneter Weise auszuüben“. Zum Steuern des Kirchenschiffes, zum Verkünden des Evangeliums, sagt der Papst, „braucht es körperliche und geistige Kraft, diese aber ist mir in den vergangenen Monaten so geschwunden, dass ich das mir anvertraute Amt nicht mehr gut ausüben kann“.

Leidet Benedikt unter Parkinson?

Ist Benedikt krank? Hat der Vatikan wieder mal etwas verheimlicht – wie damals, als die ersten Journalisten bereits ein verdächtiges, unaufhaltsames Zittern an der Hand Johannes Pauls II. bemerkten und die Kurie erst Monate später einräumte, das sei tatsächlich Parkinson? Nicht nur Pater Lombardi schließt das – von Amts wegen – aus. Gut, die Augen sind schwächer geworden, sagen Leute aus Benedikts Nähe. Den Gehstock, an den er sich schwer gewöhnt hat, aber ohne den er sich seit einem Jahr kaum mehr fortbewegt, hat schon die ganze Welt im Fernsehen gesehen, und Bundespräsident Joachim Gauck hat ihm unlängst, als Gastgeschenk, auch noch ein zweites Exemplar ins Haus geliefert. Und bei den feierlichen Einzügen zu den großen Festgottesdiensten im Petersdom steht Benedikt auch schon seit einem guten Jahr auf einem fahrbaren Podest, einfach der langen Wegstrecken wegen.

86 Jahre alt wird Joseph Ratzinger am kommenden 16. April. Er war schon 78, als er am 19. April 2005 zum Nachfolger Johannes Pauls II. gewählt wurde; und dieser starb mit 85 Jahren. Als er noch Kardinal war, Chef der Glaubenskongregation, hatte Benedikt XVI. bereits zwei leichte, offenbar folgenlose Schlaganfälle erlitten; jedenfalls hat sein Bruder Georg das einmal ausgeplaudert. Und selber hatte er bereits in „unverdächtigen“ Kardinalszeiten öffentlich von einem ruhigen, lesend-schreibenden Lebensabend in Frascati geträumt, zwischen seinen Büchern.



Gut, zuletzt scheint Benedikt sein Arbeitspensum stark eingeschränkt zu haben; nur eine einzige Reise war für dieses Jahr geplant: die unvermeidliche zum Weltjugendtag nach Brasilien; die vermeidbaren „kleinen“ Italientouren waren bereits gestrichen. Seine winzige, gestochene Handschrift, mit er alle seine Bücher geschrieben hat, machte einen zunehmend verwaschenen Eindruck. Aber krank? Krank ist Benedikt nicht. Müde sei er, ausgelaugt, sagt Pater Lombardi, und dann zitiert er, was der Papst im Interviewband „Licht der Welt“ gesagt hat: „Wenn ein Papst zur klaren Erkenntnis kommt, dass er physisch, psychisch und geistig den Auftrag seines Amtes nicht mehr bewältigen kann, dann hat er ein Recht und unter Umständen auch eine Pflicht zurückzutreten.“

Kann er wirklich nicht mehr?

Das war im Jahr 2010, in jenem „annus horribilis“, dem „schrecklichen Jahr“, in dem weltweit die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche offenbar wurden. Deswegen ist auch der zweite Satz Benedikts aus jener Zeit bedeutsam. Der Journalist Peter Seewald fragte ihn damals, ob er angesichts der Skandale einen Rücktritt erwogen habe. Die Antwort war eindeutig: „Wenn die Gefahr groß ist, darf man nicht davonlaufen. Gerade in so einem Augenblick muss man standhalten und die schwere Situation bestehen. Zurücktreten kann man in einer friedlichen Minute, oder wenn man einfach nicht mehr kann. Man darf nicht in der Gefahr davonlaufen und sagen, es soll ein anderer machen.“

Ist das nun eine friedliche Minute? Oder kann er wirklich nicht mehr? Sein theologisches Lebenswerk hat Joseph Ratzinger unlängst mit seinem dritten Band über Jesus abgeschlossen; weitere Bücher wurden im Vatikan nicht mehr erwartet. Eine dritte Enzyklika – nach seinem päpstlichen „Antrittswerk“ über die Liebe und nach jener über die Tugend der Hoffnung sollte sie vom Glauben handeln – sollte dieses Frühjahr herauskommen. Der Text wollte aber nicht fertig werden, und vielleicht hat Benedikt XVI. darüber beschlossen, dass es Zeit sei aufzuhören.



Vielleicht ist ja auch der Tag der Ankündigung bemerkenswert. Die 800 Märtyrer des Glaubens, deren Heiligsprechung Papst und Kardinäle an diesem Montag ausgerufen haben – das waren christliche Bewohner der Stadt Otranto, die bei einem Angriff der Türken im Jahr 1680 abgeschlachtet worden waren. Bei Benedikt, das hat sich in seinen knapp acht Jahren immer wieder gezeigt, musste man auch auf die Nebensätze seiner Reden achten; er neigte darin hin und wieder zu professoralem Sticheln. An jenem Septembertag des Jahres 2006 zum Beispiel, mit dem begann, was bald als ein „Papsttum der Pannen“ galt: Benedikt XVI. provozierte in Regensburg die Muslime, indem er einen mittelalterlichen byzantinischen Kaiser mit den Worten zitierte: „Sag mir doch, was Mohammed Gutes gebracht haben soll, und du wirst nur Schlechtes und Unmenschliches finden . . .“

Das Verhältnis zu den Muslimen war entspannt

Schließt sich mit der Rücktrittsankündigung an einem für das islamisch-christliche Verhältnis so bedeutsamen Tag etwa ein Kreis? Das Verhältnis zu den Muslimen war entspannt zuletzt – wenn man von der Blockade absieht, die die höchsten theologischen Autoritäten des sunnitischen Islams, die Scheichs der Al-Azhar-Moschee in Kairo über den Vatikan verhängt haben, weil sich der Papst im Arabischen Frühling auch dringend für die Rechte der Christen in jenen Staaten eingesetzt hat. Mit anderen Worten: keine Gefahr für den Dialog, aber auch kein Fortschritt. Zeit für eine Zäsur?

Oder – weltpolitisch unbedeutend, aber für Benedikt eine Frage von höchster, schmerzlichster Relevanz: die Kirchenspaltung mit den ultrakonservativen Lefebvre-Anhängern, den Piusbrüdern. Ihre vier Bischöfe haben 2009, ohne jede Vorleistung, von Benedikt die Befreiung aus der Exkommunikation erhalten. Aber dass sie sich gehorsam der katholischen Kirche und deren höchster Lehrautorität gefügt hätten – keine Spur. Sie stechen seit Jahren immer wieder sehr präzise in die offenen Wunden. Dass das bei diesem Papst eine schwere Enttäuschung, Verbitterung erzeugt hat, das weiß man. Schließlich wird ein Oberhaupt der katholischen Kirche, so hat es Kardinal Karl Lehmann einmal gesagt, vor dem Horizont der Geschichte danach beurteilt, ob er eine Kirchenspaltung ausgelöst, geheilt oder verhindert habe.



Die Pannen dieses Pontifikats, in diesem Falle die der römischen, menschlich-allzumenschlichen Kurie, gipfelten vergangenes Jahr im großen Dokumentenschmuggel „Vatileaks“. Benedikt merkte zu seiner größten persönlichen Enttäuschung, dass ihn sein engster, allgegenwärtiger Diener, der Butler Paolo Gabriele, verraten hatte. Jetzt ist der junge Familienvater zwar überführt, verurteilt, mittlerweile wieder begnadigt – aber die Ermittlungen laufen noch. Und was die drei vom Papst persönlich beauftragten Altkardinäle bei ihren Ermittlungen noch alles herausgefunden haben, das hat Benedikt lieber nicht veröffentlichen lassen. Rührt seine Amtsmüdigkeit auch daher? Oder ist es die Resignation eines Chefs, der merkt, dass er mit einem bürokratischen Apparat nicht zurechtkommt, weil dort jeder macht, was er will, und weil nicht einmal der eigene, oberste Statthalter – der Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone – genügend Kraft, Intelligenz und Geschick hat, den Laden zusammenzuhalten? Auch Bertone (78) ist sichtlich gealtert im letzten Jahr; er wird der Nächste sein, der in den Ruhestand geht.

Benedikt XVI., als Kirchenoberhaupt der 265. Nachfolger des Apostels Petrus, wird nun auch wegen seines Rücktritts in die Geschichte eingehen, genau am 28. Februar 2013 um 20 Uhr – so hat er es selbst festgesetzt. Johannes Paul II. hatte diesen Schritt trotz jahrelangen Leidens nicht tun wollen, er wollte ein Beispiel des gemarterten Durchhaltens geben. Benedikt hat in seiner Rücktrittsankündigung darauf angespielt, als er sagte, zum Papsttum gehörten „nicht nur Worte und Arbeit, sondern auch das Leiden“, aber er fühlte seine Kräfte nicht mehr reichen.