Darf ein Richter, der sehr gründlich und deswegen langsamer als seine Kollegen arbeitet, dafür gemaßregelt werden? Darum geht es bei einem Präzedenzfall in Karlsruhe.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart/Karlsruhe - Der Angriff auf die höchste Richterin in Baden kam scheinbar aus heiterem Himmel. Justizminister Rainer Stickelberger müsse die Präsidentin des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe umgehend vom Amt suspendieren, forderte die Neue Richtervereinigung per Pressemitteilung und Brief. Nicht mehr tragbar sei Christine Hügel wegen eines „Anschlags auf die richterliche Unabhängigkeit“, der bundesweit einen „Tabubruch“ darstelle. In rechtswidriger und skandalöser Weise versuche sie nämlich, einen unbequemen Richter einzuschüchtern.

 

Tatsächlich ist die öffentliche Attacke der Höhepunkt eines justizintern schon lange schwelenden Konflikts. Vordergründig geht es darum, wie weit Gerichtsvorstände auf die Arbeitsweise von Richtern Einfluss nehmen dürfen. Dahinter steht die Grundsatzfrage, ob die Gerichte lieber schnell oder lieber gründlich arbeiten sollen, ob Qualität oder Quantität Vorrang hat – und wer das letztlich entscheidet.

Der Arbeitseifer stimmt, der Ausstoß nicht

Auslöser ist der Fall eines Richters in einem Zivilsenat an der Freiburger OLG-Außenstelle. Thomas S. mag besonders gründlich arbeiten – seine Entscheidungen werden überdurchschnittlich oft in den Fachmedien aufgegriffen –, aber das Ringen um Gerechtigkeit hat seinen Preis: Das Pensum, das er erledigt, liegt deutlich unter dem seiner Kollegen. Seine Vorgesetzten störten sich schon länger daran, dass zwar nicht der Arbeitseinsatz, aber der Ausstoß zu gering sei. Zunehmend dringlich wurde das Problem offenbar mit dem Gesetz zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren. Das kann im Ernstfall zu Entschädigungen führen – und mithin zur Frage, wer dafür die Verantwortung trägt.

Die Karlsruher OLG-Chefin Hügel jedenfalls machte im Fall des Richters S. Ernst mit der Dienstaufsicht. Per Sonderprüfung ließ sie im Sommer 2011 ermitteln, wie viele Verfahren dieser im Vergleich zu seinen Kollegen zum Abschluss bringe. Das Ergebnis: S.‘ „Erledigungsleistung“ entspreche nur 68 Prozent des Durchschnitts, die Bugwelle unerledigter Fälle in seinem Bereich wachse immer weiter. Damit verletzte er das „Recht der Verfahrensbeteiligten auf ein faires und zügiges Verfahren“ samt deren Beschwerderecht. Anfang 2012 folgte die formelle Konsequenz: die Präsidentin hielt dem Richter eine „ordnungswidrige Art der Ausführung der Amtsgeschäfte vor“ und ermahnte ihn, diese künftig unverzögert zu erledigen. Begründung: er unterschreite das Durchschnittspensum „seit Jahren ganz erheblich und jenseits aller großzügig zu bemessenden Toleranzbereiche“. S.’ richterliche Unabhängigkeit, so Hügel, sei damit nicht beeinträchtigt.

Einem Rechtsexperten „stockt der Atem“

Genau das ist die Kernfrage, um die seither gestritten wird – vor Gericht, in der Fachöffentlichkeit und in den Berufsverbänden. In insgesamt sechs Verfahren vor dem Richterdienstgericht und dem Verwaltungsgericht wehrt sich der Richter gegen das aus seiner Sicht rechtswidrige Vorgehen der Präsidentin; Anfang Dezember ist der erste Verhandlungstermin. Zugleich hat er seine Anwälte Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Hügel erheben lassen. Sie wolle ihn zwingen, seine richterliche Verantwortung zulasten eines höheren Ausstoßes zu vernachlässigen, heißt es darin. Das Fazit: Einen „ähnlichen Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit hat es in Deutschland noch nicht gegeben“.

Höchst kritisch bewertet den Fall auch ein renommierter Rechtsgelehrter, Professor Fabian Wittreck aus Münster. In einem Beitrag für die „Neue Juristische Wochenschrift“ stellt er in Frage, ob Erledigungszahlen wirklich Gegenstand der Dienstaufsicht sein könnten – und ob damit nicht die richterliche Unabhängigkeit ausgehebelt würde. Konkrete Weisungen, zügiger zu arbeiten, seien fraglos unzulässig. Aber die allgemeine Vorgabe, „irgendwie“ schneller zu agieren, sei nicht minder problematisch. Finde der „Präzedenzfall“ vor den Gerichten Gnade, warnt Wittreck, würden Richter künftig wohl öfter auf diese Weise angetrieben. Wenn man sich vor Augen halte, dass der abstrakt geschilderte Fall an einem Oberlandesgericht spiele, schreibt der Professor, „stockt dem Betrachter spätestens an dieser Stelle der Atem“.

Die OLG-Präsidentin sieht sich im Recht

Zum konkreten Fall, teilte Hügel der StZ mit, könne sie wegen der laufenden Verfahren nichts sagen. Aber weder der Titel Wittrecks („Durchschnitt als Dienstpflicht?“) noch seine Ausführungen würden der Problematik gerecht. Nur die eigentliche Rechtsfindung sei der Dienstaufsicht komplett entzogen, nicht aber die richterliche Tätigkeit an sich. Vielmehr erlaube das Deutsche Richtergesetz ausdrücklich, Richter zu „ordnungsgemäßer und unverzögerter Erledigung“ anzuhalten.

Deren Unabhängigkeit werde dadurch nicht berührt, meint die OLG-Chefin: weder werde Einfluss auf den Inhalt von Entscheidungen genommen noch versucht, die Amtsführung bei konkreten Rechtsfällen zu steuern. Hinter dem Einzelfall, so Hügel stehe eine „höchst bedeutsame Frage: wie viel ist unserer Gesellschaft eine funktionierende Justiz wert?“ Andere einflussreiche Juristen im Land haben hingegen Zweifel, ob ausgerechnet der Fall S. als ein solches Exempel taugt. Hügels Vorgehen sei vielleicht rechtmäßig, aber sicher nicht klug, hört man da.

Rückendeckung vom Justizminister?

Der Justizminister hält sich in der Sache weitgehend bedeckt. Nur den Eingang der Dienstaufsichtsbeschwerde und des Verbandsschreibens bestätigte seine Sprecherin. Aus Gründen des Datenschutzes und der Fürsorgepflicht dürfe man ansonsten nichts sagen. Die Reaktion auf den Wittreck-Aufsatz lässt indes vermuten, dass Stickelberger sich hinter Hügel stellen dürfte. Ein Rechtswissenschaftler dürfe natürlich Alternativen zur ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung aufzeigen. „Genauso selbstverständlich“ sei indes, dass sich ein Oberlandesgericht bei der Dienstaufsicht daran orientiere.