Im Kirchheim unter Teck können Kinder ab November in einer Kita übernachten. Das einzigartige Angebot ist gefragt – und hat schon viel Aufregung verursacht.

Region: Verena Mayer (ena)

Kirchheim/Teck - Die Geschichte, die Marion Autenrieth ihren Kindergartenkindern am liebsten erzählen würde, geht so: es war einmal ein Kindergarten, der hatte eine ganz tolle Idee. Er will, dachte sich dieser Kindergarten, immer für seine Kinder da sein, wenn sie ihn brauchen. Also nicht nur tagsüber, sondern auch nachts. Weil es ja Mütter und Väter gibt, die ganz spät abends noch arbeiten müssen. Oder schon ganz frühmorgens. Oder manchmal sogar die ganze Nacht. Und damit diese Eltern nicht immer wieder die Oma fragen müssen, ob ihr Kind vielleicht dort schlafen kann, oder die Nachbarin oder eine Freundin, hat der Kindergarten gesagt: Die Kinder können doch bei mir übernachten. Das fanden alle toll. Die Eltern, weil sie sich endlich keine Sorgen mehr machen mussten, wie sie ihre Familie und ihre Arbeit unter einen Hut kriegen. Und die Kinder, weil sie ihren Kindergarten sowieso ganz doll lieb haben.

 

Der Erfinder dieser Geschichte heißt Manfred Sigel. Der 58-Jährige ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Tragwerk in Kirchheim unter Teck und damit der Chef von Marion Autenrieth, die die Kindertagesstätte Topkids leitet. Manfred Sigel arbeitet seit zwei Jahren an der Verwirklichung seiner Geschichte vom Haus, in dem die Kinder übernachten können. Doch eine Kindertagesstätte zur Kindernachtstätte auszubauen ist nicht so kinderleicht, wie der Sozialpädagoge dachte.

Das Problem von Manfred Sigel und Marion Autenrieth ist nicht, dass ihre Kita einen schlechten Ruf hätte. Der Ruf von Topkids ist bestens. Das Problem ist auch nicht, dass es für ihr Angebot keine Nachfrage gäbe. Das Gegenteil ist der Fall. Ihr Problem ist, dass sie Pioniere sind. Die Vorreiter aus Kirchheim sind mitten hineingeritten in familienpolitisches Neuland.

Die Vorgeschichte

Eigentlich ist die Stiftung Tragwerk spezialisiert auf pflegebedürftige Senioren und verhaltensauffällige Jugendliche. Anfang des Jahres 2012 fällt die Stiftung den Beschluss, ein weiteres Pflegeheim zu bauen. Doch die Planungen kommen nicht so recht voran, weil sich abzeichnet, dass das Heim nicht genügend Pflegekräfte finden wird. Die einen Bewerber können nicht, weil die Krippe für die Tochter erst öffnet, wenn die Frühschicht im Heim längst begonnen hat. Andere sagen ab, weil der Hort des Sohns schließt, wenn die Spätschicht noch ewig nicht um ist.

Die Stiftung Tragwerk plant um: Statt eines Pflegeheims eröffnet sie im Februar 2013 die Kindertagesstätte Topkids mit arbeitsfreundlichen Öffnungszeiten. Morgens um sechs marschieren die ersten Kinder in das strahlend gelbe Haus hinein, abends um halb neun stiefeln die letzten hinaus. Jetzt noch die Betreuung über Nacht regeln – und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wäre in Kirchheim unter Teck auch für Nachtarbeiter keine Illusion mehr.

Die Nachricht von der geplanten „24-Stunden-Kita“ in Kirchheim schlägt ein wie ein Dreirad in ein Legohaus. Die lokalen und regionalen Medien berichten groß. Zeitungen und Rundfunksender im ganzen Land vermelden die Premiere im Südwesten. Sogar der „Bild“ ist das angekündigte Angebot eine Meldung mit Foto wert. Im Januar 2014, glaubt Manfred Sigel damals, soll es losgehen. Doch bis heute schlafen im Kindergarten keine Kinder. Das Genehmigungsverfahren dauert.

Erforschung eines Präzedenzfalls

In einem kleinen Büro im Stuttgarter Westen sitzt Evelyn Samara, umgeben von prall gefüllten Ordnern, dicken Akten und gestapeltem Papier. Evelyn Samara leitet das Referat Kindertagesbetreuung beim Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS), der wiederum zuständig ist für die Genehmigung von Betreuungsangeboten. Ungefähr 1880 Zulassungen erteilt der Verband jedes Jahr. Eine Betriebserlaubnis für ein Übernachtangebot war noch nie dabei – weil noch keine gefragt war. Bis der Antrag der Stiftung Tragwerk kam. Evelyn Samara sagt: „Darüber ist sehr kontrovers diskutiert worden.“

Die Fachleute beim KVJS wissen, wie groß eine Gruppe zu sein hat, die sich tagsüber in einer Kita austobt. Aber sie wissen nicht, was das richtige Maß für die Nacht sein könnte. Für Kinder, die tagsüber betreut werden, gibt es Standards dafür, wie der mittägliche Ruheraum gestaltet zu sein hat. Doch wie sollte das Schlafzimmer für die Kinder aussehen, die nachts betreut werden? Überhaupt: wie reagiert ein Kind, wenn es nach einem bösen Traum im Kitabett aufwacht? Wird es verzweifelt weinen, weil seine Mama nicht da ist oder sein Papa?

Psychologen, Pädagogen, Verhaltensbiologen und Erzieher machen sich an die Erforschung des Präzedenzfalls von Kirchheim. In einem eigens gegründeten Fachbeirat überlegen sie, wie sich ein kleiner Schläfer in der Kita so heimisch wie möglich fühlen könnte, ohne sich von seinem Zuhause zu entfremden. Die Forscher diskutieren, wie viele Betreuer nötig sind, um nachts Kinder zu bewachen, und wie qualifiziert sie zu sein haben. Und die Experten grübeln, wie   sicherzustellen ist, dass die Kirchheimer Kinderherberge keine Verwahrstation wird, in der Eltern ihren Nachwuchs abgeben, um sich einen schönen Abend machen zu können.

Die Eltern müssen geschützt werden

„Im Vordergrund muss das Wohl des Kindes stehen“, sagt Evelyn Samara, deren Verband auch im Fachbeirat sitzt. Und die Suche nach dem Wohl des Kindes dauert, erst recht auf ungespurtem Gelände. Im Norden und im Osten der Republik gibt es zwar bereits ausgebuchte Kindernachtstätten, aber die Experten im Süden wollen nicht einfach Konzepte kopieren. Sie wollen sich ihre eigenen Werte erarbeiten.

Auf dem Schreibtisch von Marion Autenrieth liegt eine Anfrage von Familie Hauser. Herr und Frau Hauser sind beide selbstständig und viel unterwegs. Ihre Terminpläne stimmen sie zwar miteinander ab, trotzdem gibt es Nächte, in denen es weder Herr Hauser noch Frau Hauser nachts nach Hause schaffen. Etwa wenn mal wieder Messe ist im hohen Norden oder gar im Ausland. Marion Autenrieth berichtet auch von der Familie Schuster. Herr und Frau Schuster sind Ärzte. Trotz aller Anstrengungen lässt es sich nicht vermeiden, dass sich ihre Nachtdienste manchmal überschneiden. Frau Kurz hat bei Marion Autenrieth ebenfalls angekündigt, dass sie schrecklich froh wäre, wenn die Topkids auch nachts auf ihr Kind aufpassen würden. Frau Kurz ist alleinerziehend und muss an manchen Tagen bis nachts um zehn arbeiten.

Die Namen der Familien sind erfunden. Marion Autenrieth will nicht verraten, wie die Interessenten wirklich heißen. Und sie will auch keinen Kontakt zu ihnen für ein Interview vermitteln. Die Erzieherin möchte die Mütter und Väter schützen, die ihr Kind in der Kita schlafen lassen wollen. Sie weiß, wie schnell solche Eltern als Rabeneltern beschimpft werden. Dafür muss man nur mal ins Internet schauen.

„Wie kann man so gewissenlos sein?“

„Wie kann man seine Karriere wichtiger nehmen als sein Kind?“

„Wie soll sich so die Persönlichkeit eines Kindes entfalten?“

„Wieso setzt jemand Kinder in die Welt, wenn er sich nicht drum kümmern kann?“

Die Liste dieser rhetorischen Fragen ließe sich endlos fortsetzen.

Neue Zeiten

Was sagt Evelyn Samara dazu, die Referatsleiterin beim KVJS? Haben die Kommentatoren recht? Oder ist die Brille, durch die sie in die Welt schauen, sehr rosarot und das Ross, auf dem sie sitzen, sehr hoch? Evelyn Samara, die unter anderem eine Ausbildung als Diplompädagogin hat, sagt mit geduldig-sanfter Stimme: „Wenn sich die Gesellschaft verändert, werden sich auch die Betreuungsangebote verändern.“

Wenn mehr Frauen berufstätig sind, ist ein Kindergarten, der um 16 Uhr schließt, nicht mehr zeitgemäß. Wenn mehr Mütter und Väter ihre Kinder allein erziehen, kann eine ganztägige Betreuung eine große Unterstützung sein. Wenn junge Familien riskieren, ein existenzsicherndes Einkommen zu verlieren, muss es sozial sein, Betreuungsplätze schon für Kleinkinder einzurichten.

Wenn Supermärkte bis Mitternacht geöffnet haben, Restaurants erst früh am Morgen schließen und Krankenhäuser rund um die Uhr geöffnet sind und wenn all diese Dienstleistungen gut genutzt werden: ist die Zeit dann nicht reif für eine Kindernachtstätte?

Die Antwort, zu der Evelyn Samara und der KVJS nach monatelangen Beratungen im Fachbeirat kommen, lautet: Ja.

Die Geschichte von Manfred Sigel und Marion Autenrieth kann also endlich wahr werden.

Im November geht’s los

Wenn die Schläfer um 17 Uhr in der Schlierbacher Straße 43 eintreffen, wird das maßgeschreinerte Traumschiff, in dem sie durch die Nacht segeln, schon aufgebaut sein. In ihren Bettchen, die stilecht „Schlafkojen“ heißen, ist genug Platz für die Kuscheltiere, die die Kinder von daheim mitbringen können. Um 18 Uhr essen die kleinen Matrosen zu Abend, um 19 Uhr ziehen sie sich um. Danach singen sie Schlaflieder und lauschen Gutenachtgeschichten. Um 20 Uhr legt das Traumschiff dann ab. Die beiden Betreuerinnen schlafen im Zimmer nebenan und wecken die Kinder am nächsten Morgen um sechs Uhr. Nach dem Frühstück um sieben geht die Besatzung wieder an Land. „Wir versuchen, so viele Rituale wie möglich von daheim zu übernehmen“, sagt die Erzieherin Marion Autenrieth.

Die 52-Jährige muss klare Regeln einhalten. Laut der Genehmigung dürfen pro Nacht nicht mehr als acht Topkids auf dem Traumschiff anheuern. Für Drei- bis Vierjährige haben die Experten im Fachbeirat eine Maximalbelegung von zwei Nächten pro Woche und vier im Monat festgelegt. Bei Fünf- und Sechsjährigen sind es vier Nächte pro Woche und acht im Monat. So steht es in der Betriebserlaubnis, die der KVJS ausgestellt hat. Das Wohl des Kindes ist wichtiger als das Wohl des Arbeitgebers.

Vom kommenden November an können die Kojen im Traumschiff gebucht werden. Bis dahin soll auch die Finanzierung geklärt sein. Manfred Sigel hofft, dass die Stadt Kirchheim die Nachtplätze genauso bezuschusst wie die Tagplätze. Mehr als 20 Euro pro Übernachtung will er möglichst nicht verlangen.

Auf dem Schreibtisch von Marion Autenrieth liegt auch die Anfrage einer Mutter, die im Dreischichtdienst arbeitet. Ihre beiden Kinder erzieht sie alleine. Das neue Angebot würde ihr viel Stress und Sorgen sparen. Doch ihre jüngste Tochter ist erst eins. Sie darf noch nicht an Deck des Traumschiffs. Was nun?

Womöglich wird die Kirchheimer Gutenachtgeschichte fortgeschrieben.