Im Stuttgarter Handel rumort es. Feinstaubalarm, drohende Fahrverbote, sinkende Kundenfrequenz: Die Händler in der City sind unzufrieden. Branchenvertreter fordern ein Konzept.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Der Ort ist passend: Hans-im-Glück-Brunnen, also mitten in der Stadt. Das Wetter ist besser als die Stimmung im Handel, das Innenstadtbüro unserer Zeitung ist lichtdurchflutet. Der Grund des Treffens: Es rumort im Handel. Seit Längerem gibt es Kritik an der Verkehrssituation in der Stadt. Der Feinstaubalarm und die Debatte über Fahrverbote, der geplante Abbau von oberirdischen Parkplätzen haben die Laune der Branche nicht gerade gehoben. Wie beurteilt der Handel die Lage in der City?

 

StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs, Lokalchef Jan Sellner sowie die Redakteure Josef Schunder, Martin Haar und Jürgen Brand diskutierten mit der Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands Baden-Württemberg, Sabine Hagmann, mit IHK-Präsidentin Marjoke Breuning und Thomas Benedetti, dem Geschäftsführer der Galeria Kaufhof an der Königstraße, sowie mit Hans-Jürgen Reichardt, dem Geschäftsführer der Abteilung Verkehr und Industrie bei der IHK.

Der Handel in der City

Die Stadt ist voll, das Leben pulsiert – und der Handel klagt. Warum?

Sabine Hagmann: Die Frequenz ist stark zurückgegangen, in den vergangenen zwei Jahren in der Königstraße um mindestens 20 Prozent – mit anhaltender Tendenz.

Thomas Benedetti: Das haben Frequenzmessungen ergeben. Stuttgart war immer auf den Plätzen vier bis sechs bundesweit, jetzt sind wir auf die Plätze 14 bis 16 abgerutscht. Das zeigt, dass unsere Kunden nicht alles mitmachen, was man ihnen aufbürdet. Die Erreichbarkeit der Innenstadt ist in einem hohen Maße schwieriger geworden. Wir haben viele Baustellen, vor allem auch wechselnde Baustellen. Der eine oder andere, der im Randgebiet wohnt, geht da in umliegende Einkaufszentren. Nichtsdestotrotz ist Stuttgart eine attraktive Stadt. Aber wir müssen heute viel mehr tun als früher, um das Gleiche zu erreichen.

Marjoke Breuning: Stuttgart hat ein Imageproblem, zum Beispiel weil wir bundesweit mit dem Feinstaubalarm in den Medien sind. Wir hören von Auswärtigen: Es gibt Staus, Baustellen, die Luft ist schlecht – muss ich mir das antun? Shopping ist immer auch eine Sache der Psychologie. Wenn man von vornherein ein Aber hat, wird das schwierig. Hartnäckig widersprechen muss ich jedoch denen, die sagen, dass die Königstraße verramscht. Es gibt viele neue und interessante Geschäftskonzepte. Handel ist Wandel.

Hagmann: Es gibt Untersuchungen zu Langfrist- und Tagestouristen. Der Langfristtourist gibt im Schnitt 30 bis 35 Cent pro Euro im Einzelhandel aus, der Shoppingtourist 60 bis 70 Cent. Für uns ist der Tagesshoppingtourist deshalb sehr wichtig. Aber kommt der noch bei dem Image? Zum Glück haben wir jetzt das Dorotheen-Quartier, das viele anzieht. Aber längerfristig wird es das schlechte Image wohl nicht überlagern.

Drohende Fahrverbote

Der Handel ist aufgeschreckt bis empört über die drohenden Fahrverbote. Ist Ihnen die Luftqualität in Stuttgart gleichgültig? Breuning: Wir sind alle für saubere Luft, dass wir hier gut leben können. Aber als Händlerin muss ich sagen: Wir haben einen Mordsrespekt vor Fahrverboten. Wenn es dazu kommt, verbunden mit einem starken Frequenzrückgang, wird das für den einen oder anderen existenzgefährdend.

Hagmann: Breuninger hat 10 000 Kunden befragen lassen, ob sie im Falle von Fahrverboten weiter in die Stadt kommen. Die Mehrheit hat gesagt: Dann kaufen sie anderswo oder im Netz. Das Land muss gegen das Urteil zu den Fahrverboten in Berufung gehen. Wir müssen von diesem 1. Januar 2018 wegkommen. Wir brauchen Planungssicherheit, die Wirtschaft insgesamt, nicht nur der Handel. Die Frage ist: Wann verschwindet das Auto, wann können wir nicht mehr richtig beliefern? Überzogen gesagt: Wann flüchten wir am besten mit unseren Betrieben aus der Innenstadt?

Benedetti: Die Ungewissheit ist gravierend. Wir haben Ende September und reden über Fahrverbote 2018. Stellen wir uns vor, das Land geht nicht in Berufung und Fahrverbote kommen, da brauche ich doch eine Alternative. Das ist für mich als Händler das größte Problem. Ich vermisse massiv einen Stufenplan: Wo wollen wir bei dem Thema 2030 stehen? Wir müssen gemeinsam nach vorne schauen, um die Lage in den Griff zu kriegen.

Hagmann: Wir brauchen einen Masterplan. Ich kann doch nicht sagen, ich mache richtige Einschnitte beim Individualverkehr und habe keine Alternativen, keinen Plan B. Der ÖPNV muss kurz-, mittel- und langfristig gestärkt werden. Es muss ein Riesentopf auf den Tisch. Wir brauchen kürzere Takte, längere Bahnsteige, vielleicht mehr Linien, der Verkehr muss verflüssigt werden.

Das klingt so, als wäre all die Jahre nichts passiert? Das trifft aber nicht zu.

Hans-Jürgen Reichardt: Die Stadt macht bereits sehr viel. Zum Beispiel hat sie die Integrierte Verkehrsleitzentrale eingerichtet, die ist sehr gut für die Verkehrsverflüssigung. Unsere Studie „Dem Stau auf der Spur“ hat ergeben: Alles, was im Moment machbar ist, wird gemacht. Was im Verkehr steuerbar ist – Ampeln, Verkehrsleitzentrale, ÖPNV –, ist weitgehend ausgereizt. Man sollte aber auch an der Hardware ansetzen: Die klagende Deutsche Umwelthilfe hat sich Gedanken darüber gemacht, woher in den Großstädten die Hauptschadstoffemissionen kommen – zum Beispiel das Stickoxid – und welche Fahrzeuge in der Stadt die meisten Kilometer fahren. Das sind laut Umwelthilfe die Busse mit alten Motoren. Und da wird wirklich was passieren. Die Stadt wird im nächsten Jahr beginnen, die Busse der SSB auf modernste Technologie umzustellen. Damit können wir sicher sein: Das bringt was. Das hätte man natürlich schon vor zwei Jahren machen können. Das Land selber sagt: Bis in maximal zweieinhalb Jahren wird sich alleine aufgrund des technischen Fortschritts die Fahrzeugflotte so zusammensetzen, dass wir das heutige Luftproblem nicht mehr haben. Wir sind auf einem guten Weg, dass wir bald messbare Verbesserungen haben werden. Keine Frage: Die Sache hat durch die Prozesse und durch die Debatte über Fahrverbote richtig Druck bekommen, das ist nicht schädlich, und der Bund gibt eine Milliarde Euro für Verbesserungen. Die Stadt muss jetzt hingehen und dieses Förderprogramm als Chance sehen, sich modern aufzustellen. Jetzt gibt’s keine Entschuldigung mehr.

Wegfallende Parkplätze

Andere Städte wie Kopenhagen oder Oslo profitieren von einer autofreien Innenstadt. Warum sollte das in Stuttgart anders sein, wenn in der City 150 bis 200 oberirdische Parkplätze wegfallen? Man hat den Eindruck, Wohl und Wehe des Handels hänge daran. Hagmann: Wir sind gegen die Streichung von Parkplätzen, weil wir darin keine Attraktivitätssteigerung der Innenstadt sehen wie OB Kuhn. Die oberirdischen Parkplätze sind für viele Frauen, auch mit Kindern, ein Mittel, um etwa an der Markthalle mal kurz zu parken und was zu kaufen. Ich habe durchgerechnet, was der Wegfall für Umsatzverluste bedeuten könnte. Bei 200 Parkplätzen, die achtmal am Tag sechsmal die Woche belegt sind, bei einem Umsatz von 20 Euro – das ist superkonservativ gerechnet! – gehen der Innenstadt im Jahr zehn Millionen Euro verloren. Selbst wenn nur die Hälfte wegbleibt und die andere ins Parkhaus geht, sind’s noch fünf Millionen Euro.

Benedetti: Mir war vor dieser Debatte nicht klar, dass wir in Stuttgart so viele Parkplätze in Parkhäusern haben. Aber ich seh’ sie auch nicht. Deshalb brauchen wir ein funktionierendes Parkleitsystem. In Düsseldorf oder Hamburg gibt es das. Es ist nicht jeder Stuttgarter, der auch weiß, wo Parkhäuser sind, vor allem nicht jene, die am Wochenende aus dem Umland kommen.

Hagmann: Ein Parkleitsystem verspricht man uns seit vielen Jahren.

Problem Lieferverkehr

Der Handel trägt mit dem Lieferverkehr selbst zur schlechten Luft bei. Was unternehmen Sie dagegen? Hagmann: Wir könnten uns vorstellen, dass der Lieferverkehr anders getaktet wird, außerhalb der starken Verkehrszeiten erfolgt. Im Lebensmittelhandel werden aber fast nur noch moderne Lastwagen der Euro-6-Norm eingesetzt, zum Teil E-Lastwagen.

Breuning: Wir haben der Stadt geschrieben und gefragt, ob auf der frei werdenden Fläche hinter dem Gaskessel nicht ein Logistikzentrum entstehen könnte, von dem aus die Stadt auf andere Weise beliefert werden könnte, mit ganz neuen Möglichkeiten.

Reichardt: Stellen wir uns vor, wir würden jetzt komplett elektrisch fahren. Dann hätten wir an der Menge des Verkehrs nichts geändert. Für die Urbanität ist aber wichtig, dass die Verkehrsmenge und die Sichtbarkeit des Verkehrs abnehmen. Dazu gehört, dass die Geschäfte zu anderen Zeiten beliefert werden. Ich glaube, dass wir unser Hirnschmalz darauf verwenden sollten, dass wir in fünf bis zehn Jahren hier was anderes sehen als heute. Wenn wir uns darauf konzentrieren, bringt das was. Da treiben wir als Kammer seit 2012 die Stadt vor uns her. Wir haben ein Gutachten für Stuttgart in Auftrag gegeben, durch welche Veränderungen in der Lieferstruktur wir etwas erreichen können, ob mit kleineren Gefäßen oder elektrisch angetrieben. Aber welche Warenmengen kommen überhaupt herein? Die Stadt weiß bis heute nicht, welche Gütermengen jeden Tag nach Stuttgart geliefert werden. Das muss ich aber zuallererst wissen, wenn ich ein neues Konzept machen will. Erst durch die Zuspitzung der Lage mit Fahrverboten kommt Drive in die Geschichte. Jetzt sitzen wir mit dem Verkehrsministerium und der Stadt zusammen, zum ersten Mal wird durch das Fraunhofer Institut untersucht, welche Gütermengen in die Stadt kommen und welcher Art sie sind. Ich kann ja einen Pelzmantel nicht neben einem Gefrierhühnchen transportieren.

Online-Handel

Müssen Sie nicht selbst mehr für die Attraktivität der Geschäfte tun – schon wegen des zunehmenden Online-Handels? Hagmann: Der E-Commerce liegt bei zehn Prozent, bei ständigem Zuwachs. Manche Experten gehen davon aus, dass er 2020 bei 20 Prozent liegen werde. Das betrifft vor allem Klein- und Mittelbetriebe, die da nicht mithalten können, und da besonders den Textilhandel. Der Textilhandel ist in den Innenstädten die Halsschlagader des Handels. Man sagt: Wenn der letzte Textilhändler zumacht, kannst du die ganze Innenstadt zumachen. Das muss man verstehen.

Benedetti: Wir haben einen Online-Shop. Die Mitarbeiter können übers Tablet Artikel bestellen für die Kunden – aus dem Lagerbestand des gesamten Unternehmens. Man kann sich die Ware nach Hause schicken lassen oder zu uns in die Filiale.

Hagmann: Der stationäre und der digitale Handel wachsen zusammen. Aber das Internetgeschäft ist ganz anders als der stationäre Handel. Man braucht andere Kenntnisse, andere Menschen – und eine riesige Logistik. So einfach ist das nicht. Manche Fachleute sagen, gegen Amazon werden sich nur ganz wenige behaupten. Wir raten unseren Unternehmen: Ihr müsst euer stationäres Geschäft auf Vordermann bringen, aber auch digital auffindbar sein. Der Kunde muss schauen können: Wie sieht das Kleidungsstück in einer anderen Farbe aus. Aber jedes Unternehmen muss überlegen: Was passt zu mir, was kann ich leisten?