Seit zwei Jahrhunderten sind die Russen innigst mit Baden-Baden verbunden. Derzeit strapaziert die Ukraine-Krise die Beziehung.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Baden-Baden - Wovon träumt eine russische Frau? Dass ihr Mann sie unverhofft beiseite nimmt, mit seinen starken Händen ihre Taille umfasst und sagt: Nadjuscha, lege deinen Schurz ab und packe deine schönsten Kleider in den Koffer, deinen Nerzkragen, deine Kaschmirstola. Lass alles stehen, wir reisen in unsere Sehnsuchtsstadt. Wir wollen spielen im Casino, wo Tolstoi sein Unglück machte an den grünen Tischen. Wir wollen über die Lichtentaler Allee spazieren wie einst Zarewitsch Alexander. Wir wollen die Herzen erfrischen im Kurpark, wo schon damals das Orchester unsere alten Lieder spielte. Ich will dir die Welt zu Füßen legen, Nadjuscha. Komm mit mir nach Baden-Baden.

 

Russland und Baden-Baden, das alte Liebespaar. Zu den Seasons im 19. Jahrhundert kamen die traurigsten russischen Dichter, die dekoriertesten russischen Generäle, die reichsten Ostfürsten und Zaren mit einer Entourage so groß wie ein Infanterieregiment. Die Damen promenierten in sündhaft teuren Kleidern, ihre Männer fanden Reiz am Roulette. Auf den großen Bällen im Conversationshaus zeigte die russische Noblesse ihre ganze Nonchalance und Grandezza. Der Erste Weltkrieg riss die Liebenden auseinander.

Als der Eiserne Vorhang aufging, begann der Sog erneut. Und es war, als ob man nie getrennt gewesen wäre. Neureiche Hasardeure, Oligarchen, Hochkriminelle logierten wie früher die Fürsten, kauften sich die prächtigsten Villen, fuhren nun im Lamborghini statt im Vierspänner vor und verwandelten die Stadt in ein Monte Carlo an der Oos. Wieder ganz eng, endlich vereint.

Wie fing alles an?

Was ist das für ein Band, das die Russen so innig mit der badischen Kurstadt verknüpft? Wie entstand diese Brücke vom Nordwestrand des Schwarzwalds bis hin zum Uralgebirge? Wie fing das alles an?

Mit Luise. In einem versteckten Gärtchen am Rathaus steht sie als Bronzefigur in mädchenhafter Pose. Ein paar russische Banker waren bei einer Stadtführung vor ein paar Jahren in spontane Spendierlaune geraten. Nicht lange, und die Statue, von einem Moskauer Bildhauer geschaffen, war da. Jetzt weilt sie an ihrem schattigen Plätzchen mittendrin und doch abgeschirmt vom großen Trubel. Die stille, sorgenschwere Herrscherin.

1792 hatte Zarin Katharina ihren Boschafter an den badischen Hof geschickt, um herauszufinden, ob die elfjährige Prinzessin Luise als Gattin für ihren Enkel Alexander infrage kommt. Sein Fazit: „Sie ist kräftiger und weiter entwickelt als andere Kinder ihres Alters. Sie ist sehr hübsch, ohne absolut schön zu sein. Man lobt ihren Charakter und sieht ihre Gestalt und Frische als eine Garantie für ihre Gesundheit an.“ Alles in Ordnung also. Ein Jahr später war Hochzeit. 1801 wurde ihr Gatte Alexander der neue Zar. Und sie Zarin.

Sie wurde nicht glücklich. Die Kälte und Falschheit am Petersburger Hof erdrückten sie. Sie hatte Heimweh. 1814 besuchte sie Baden-Baden und wäre gern für immer geblieben. Sie wirkte wie ein Magnet auf die High Society. Baden-Baden blühte auf zur Sommerhauptstadt Europas. Und die verschwenderische russische Seele nahm Besitz von der Stadt. Ein Jahrhundert lang.

Glanz und Gloria

Iwan Turgenjew beginnt seinen Roman „Rauch“: „Am 10. August 1862 um vier Uhr nachmittags wimmelte es in Baden-Baden von Menschen – das Wetter war herrlich: alles ringsum. Die grünen Bäume, die hellen Häuser, das wellige Bergland. Über allem lag ein absichtsloses, vertrauensvolles und freundliches Lächeln, und das gleiche Lächeln überzog auch die Menschengesichter. Und die bunten Bänder und Federn, die goldenen und stahlblauen Pailletten an Hüten und Schleiern erinnerten unwillkürlich an die lebhafte Pracht, das leichte Spiel von Frühlingsblumen und regenbogenfarbigen Schwingen.“

Hier trafen sich Glanz und Gloria: Großfürst Nikolaj Romanov, der dann später im Lauf der Russischen Revolution erschossen wurde. Die schöne Elizaveta, geborene Baronesse Stroganova, eine leicht oberflächliche Dame mit auffallendem Vergnügungssinn. Finanziert wurde ihre Lebensart von ihrem Mann Nikolaj Demidov, ein Großunternehmer, der Bergwerke im Ural und 11 000 leibeigene Arbeiter geerbt hatte. In Charakter und Geschmack, hieß es, passten die Eheleute nicht zusammen.

Auch gern gesehen: der düstere, von Wahnvorstellungen geplagte Graf Fedor Rostopcin. Der großspurige General Alexander Benkendorf, der ein europaweites Spionagenetz geschaffen und auch etliche Spitzel in der Sommerhauptstadt platziert hatte. Die überspannte Fürstin Evdokija Golicyna – eine Zigeunerin hatte ihr prophezeit, sie werde nachts sterben, so machte sie fortan die Nacht zum Tage. Fürst Alexander Lobanov-Rostovskij, der als Hobby Porträts von Maria Stuart sammelte und in Paris das Matthäus-Evangelium verlegte. Fürst Wladimir Menschikov war auch so eine Marke: unermesslich reich und mit der Angewohnheit, jeden Morgen seine Schimmeltroika über die Lichtentaler Allee zu jagen. Stets einen Sack Goldrubel bei der Hand, falls die Polizei sich wieder wichtigmachen sollte. Als er Napoleon III. empfing, ließ er eine aus tausend Forellenbäckchen bereitete Suppe servieren. Kurz: der Malefizkerl war ein echtes Schmuckstück der extravaganten, exaltierten Kurgesellschaft. Und so vorzeigbar wie die Literaten: „Ich lebe jetzt im berühmten Kurort Baden-Baden“, schreibt Nikolai Gogol 1836 seiner Mutter: „Ich wollte nur drei Tage bleiben, und schon drei Wochen kann ich mich nicht losreißen. Es gibt hier niemanden, der ernsthaft krank ist. Alle kommen, um sich zu amüsieren.“

Ein Grand Hotel von Weltrang

Das täglich erscheinende Badeblatt informierte über Bälle, Theatervorstellungen, Konzerte und das Wetter in Petersburg. Es berichtete, wenn sich wieder zwei Hochadlige als Hundsfott betitelt und beim folgenden Duell gegenseitig getötet hatten. Vor allem aber darüber, wer am Vortage angekommen war und in welchem Hotel er oder sie logierte. Das waren die Breaking News.

1872 erwarb der Hofkleidermacher Anton Brenner das Stephanienbad an der Lichtentaler Allee. Es sollte zum Grand Hotel von Weltrang aufsteigen. Nicht nur die Russen kamen: 1880 fand sich der Prinz of Wales ein, um auf der Wiese vor dem Hotel sein Tennisracket zu schwingen. Das Volk durfte zugucken. 1889 machte der Schah von Persien Station: Während des Aufenthalts ließ sich einer seiner Untertanen was zuschulden kommen, sein Herr verhängte daraufhin die Todesstrafe. Sie sollte im Hof des Hotels vollstreckt werden. Dem Diener gelang mit Hilfe von außen die Flucht aus dem Hotelzimmer, das kurzerhand zur Todeszelle umfunktioniert worden war. Der persische Herrscher war sehr böse darüber.

Zur Jahrhundertwende kamen die Tanztees auf der Terrasse des Kasino Stephanie schwer in Mode. Die Roaring Twenties machten das Brenners, wie es jetzt hieß, endgültig zum ersten Haus am Platz: Sommerwind, Sektlaune, Saxofon-Swing und Gäste wie der Operettenkönig Franz Lehár, der Rennstar Rudolf Caracciola, der Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann.

Paltz eins unter den ausländischen Hotelgästen

Später gesellten sich Kaiser, Sultane, Maharadschas, Henry Ford, die Begum, Zarah Leander und Frank Sinatra zur Brenners-Riege. 1962 bei den Vorgesprächen zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag stärkten sich Adenauer und de Gaulle hier mit Tomatencremesuppe, Kohl und Chirac löffelten 30 Jahre später Kraftbrühe mit Pistazienklößchen.

1996 checkte Russlands Präsident Boris Jelzin ein. „Der Besuch war wie ein Wachküssen. Weil damit eine Öffnung geschah, der Sehnsuchtssort Baden-Baden plötzlich wieder erreichbar wurde“, sagt Frank Marrenbach, der Direktor des Brenners.

Heute nehmen die Russen Platz eins unter den ausländischen Hotelbesuchern ein. Vor den Amerikanern. Jeder sechste Gast ist Russe. Und jeder dritte ist leicht als solcher zu erkennen: Die Männer mit bravem Haarschnitt, den Pony wie Buben nach vorne gekämmt. Die Frauen immer mit gefärbten Haaren, immer stark geschminkt, immer hochhackig. Manchmal mit einem Stich ins Ordinäre. Viel Glitzer. Und Stolz in der Haltung: eine Russin haut nichts um. Die Kinder in Kleidern, die hierzulande zur Discozeit oder noch nie in Mode waren. Ein eng anliegendes Feinstrickwestchen für den kleinen Oligarchen, darüber das weiße Sakko leger bis zum Ellbogen hochgeschoben. Die Mädchen präsentieren sich gerne als kleine Audrey Hepburns oder Lolitas.

Spirituosenflaschen in allen Farben

Der Brenners-Portier hält so einer Göre die Tür auf. Sie stolziert hinaus. Eine voll verschleierte Araberin tritt ein und schlurft mit ihren Kindern in Richtung Orangerie. Der Frühstücksraum in Douglasienholz. Die Cigar Lounge mit Büchern wie „The Dutch Painters“ oder „The Crafts of Indonesia“. Stammgäste schließen ihre Zigarren in den Humidor-Tresor. Der Wintergarten englisch wie vor hundert Jahren. Pianomusik. In der Oleanderbar funkeln Spirituosenflaschen in allen Farben. Beim Sofa, in das man wie in eine Wolke sinkt, liegen das „Mercedes Magazin“ und die „Neue Zeit“ aus, ein deutsch-russisches Journal.

Marrenbach stellt sich auf seine russischen Gäste ein. Er beschäftigt eigens eine Repräsentantin in Moskau. In Baden-Baden sprechen zehn Prozent der Mitarbeiter Russisch – „die sitzen an den zentralen Stellen wie Frühstück und Housekeeping“. Eine Gastmanagerin kümmert sich ausschließlich um Russen. Es gibt die Menükarte auf Russisch, im Zimmer wartet ein   Begrüßungsbrief auf Russisch. „Die Sprachkompetenz bei den Russen ist eher durchschnittlich“, sagt Marrenbach. „Mit Englisch kommt man da nicht gut rum.“

Die Superreichen aus dem Riesenreich schnupperten als Erste rein. „Man merkte damals, dass sie noch nicht so vertraut mit Grand Hotels waren. Inzwischen haben sie die ganze Welt bereist und sind äußerst kundig.“ Einige Stammgäste verlor man bald wieder, weil sie sich lieber eine eigene Villa in der Stadt kauften. Warum halbe Sachen machen? Eine Nacht in der 240 Quadratmeter großen Präsidentensuite (ein Unternehmer hat sie sich in Moskau 1:1 nachbauen lassen) sollte einem 5000 Euro wert sein. Die Parkvilla, die auch zum Brenners gehört, kostet das Dreifache. Dafür kann man schon was verlangen: „Russen erwarten alles sofort. Wenn sie die Spa-Suite mieten wollen, kann man ihnen nicht damit kommen, dass sie für den Vormittag schon ausgebucht ist“, sagt Marrenbach. „Sie sind sehr fordernd, andererseits bezahlen sie aber großzügig. Das ist dann wieder der Einklang.“

Noch muss sich die Familie Oetker keine Sorgen um ihr Hotel machen. Doch ein Ausbleiben der Gäste aus Russland und den GUS-Staaten würde die Fünf-Sterne-Superior-Herberge tief treffen. Seit der Ukraine-Krise kommen merklich weniger Russen. Ukrainer sind gar keine mehr auf der Gästeliste. „Wir hoffen aus menschlicher, aber auch aus ökonomischer Sicht, dass bald wieder Frieden herrscht“, sagt Frank Marrenbach. „Normalität ist gut für uns.“