Seit zwei Jahrhunderten sind die Russen innigst mit Baden-Baden verbunden. Derzeit strapaziert die Ukraine-Krise die Beziehung.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Baden-Baden - Das Casino ist ein Hörspiel. Die immergleichen Satzfetzen der Croupiers. Das Klackern der Kugel, wenn sie nach endlos ruhigem Lauf das gegenläufige Rad touchiert. Wenn sie dann zu hüpfen anfängt, wie ein Betrunkener von Zahl zu Zahl taumelt und schließlich ihren Platz für die Runde gefunden hat.

 

Wenn das neue Spiel beginnt und „die runden Stücke hinfallen wie eine Saat, die der Rechen des Croupiers sensenscharf mit einem Riss wegmäht oder als Garbe dem Gewinner zuschaufelt“, so hat es Stefan Zweig beschrieben. „Das einzige Wandelhafte werden bei solch einer perspektivischen Einstellung die Hände – die vielen bewegten wartenden Hände rings um den grünen Tisch, alle aus der immer anderen Höhle eines Ärmels hervorlugend, jede ein Raubtier, zum Sprung bereit.“

Seit mehr als 150 Jahren rollt in Baden-Baden die weiße Kugel. Das Roulette machte die Stadt weltberühmt. Vor allem für die Russen war das Spiel eine unwiderstehliche Verlockung. So ist es heute noch.

Die Doppelflügeltür aus dunklem Holz durchschritten schon Zaren. Die Säle mit ihrer karmesinroten Seidentapete und Rokokoverspieltheit, der fast übertriebenen Kronleuchterpracht, den Goldmosaiken, den schweren Teppichen, den Ölgemälden. Nur die Toiletten dufteten im 19. Jahrhundert noch nicht nach Kaugummiaroma.

Tolstoi spielte sich um Kopf und Kragen

Drei Russinnen mittleren Alters sind allein im Automatensaal, man unterhält sich zwanglos wie beim Wäscheaufhängen, mästet derweil die Kästen mit Euroscheinen. Eine grauhaarige Asiatin in Hotpants und Leopardenstiefeletten sitzt ohne Mimik am Black-Jack-Tisch. Was der Croupier wohl denkt? Ein Aufpasser wacht im Hochstuhl wie ein Tennisschiedsrichter über das Geschehen. Und er bemerkt alles, mag er noch so unbeteiligt schauen. Die Jetons leuchten in allen Farben wie Fruchtdrops zum Lutschen. Von den zitronengelben Zwei-Euro-Jetons bis zum fetten 5000-Euro-Chip im Skatkartenformat.

In Baden-Baden spielte sich schon Lew Tolstoi um Kopf und Kragen. Immer wieder notierte er „Alles verloren“ in sein Tagebuch, später dann: „Von lauter Lumpen umgeben! Und der größte Lump bin ich!“ Hier ruinierte sich Fjodor Dostojewski. Er verspielte sein ganzes Hab und Gut am rotierenden Rad, zuletzt noch den Ehering.

Auch an diesem Abend ist da ein Gehetzter mit diesem Flackern im Blick. Etwa Mitte 50, ein Kurzarmhemd unter seinem zu großen Jackett. Er sitzt nicht wie die anderen, er steht, immer leicht in Bewegung. Kramt unablässig neue Fünfzig-Euro-Scheine zum Einwechseln hervor. Beugt sich über den Tisch, verteilt eifrig die Jetons, verschiebt in letzter Sekunde ein paar auf noch bessere Plätze. Bis ihn das „Nichts geht mehr“ des Croupiers für einen Moment erlöst. Einmal, als eine Frau ihren Gewinn zu sich heranschaufelt, schaut er sie kurz schulterzuckend an. Ein trauriges Bild. Dem kugelrunden Hünen mit Glanzsakko neben ihm geht es hingegen sichtlich gut. Er hat die waldmeistergrünen Fünfzigerjetons als kleinste Einheit, die verteilt er Spiel für Spiel großzügig auf dem Filz. „Wie viel ist Limit hiärr?“, fragt er.

Ein Vollbad im Luxus

Es geht das Gerücht, für richtig reiche Russen sei das Casino wegen der Höchsteinsätze, lächerliche 7000 Euro, wenig attraktiv. Lieber werde in Privatschlösschen oder Hotelsuiten gespielt. An Geld mangelt es den Russen hier jedenfalls nicht. Und sie kommen nach Baden-Baden, um es auszugeben. Mit einer Vehemenz, wie sie keine andere 50 000- Einwohner-Stadt kennt.

Ein Bummel durch die Fußgängerzone ist ein Vollbad in Luxus. Am Leopoldsplatz war früher ein McDonald’s, jetzt ist da Strenesse. Gegenüber: der exklusive Hemdenschneider van Laack. Edelmarken reihen sich aneinander, dass es fast schon obszön ist: Etro, Valentino, Balmain, Prada, Vacheron Constantin, Cartier, Gianni Lazzaro. Hier ein Vertu-Handy für 13 000 Euro, dort eine Uhr von Jaeger-LeCoultre für 10 000 Euro. Wer bietet mehr? Eine Ulysse Nardin für 15 000 Euro, eine Rolex für 31 000 Euro, eine Dornblüth Quintus für 49 300 Euro. Weiter auf der Sophienstraße: Jimmy Choo, Patek Philippe, Escada, Jil Sander, Armani, Hermès, Longines, John Lobb, E. Braun & Co, Meißener Bleikristall. Im Café König gibt es Törtchen mit Blattgold.

Eine junge Frau sitzt an den Kolonnaden im Schatten eines Baums, neben sich ein Buch auf Kyrillisch, und scheint Gedanken nachzuhängen. Vielleicht eine Studentin aus Heidelberg, auf ein Rendezvous verabredet? Die Tochter eines aserbaidschanischen Tycoons, der Milliarden mit Erdgas scheffelt? Der Spross einer russischen Kaviardynastie? Hier kann man sich viel vorstellen. Die beiden reich geschmückten und superdrallen Babuschkas, wie von Botero gemalt, waren früher bestimmt einmal feengleiche Prinzessinnen. Oder was könnte die Schönheit mit dem ernsten Blick, dem Pagenkopf, den roten Lippen und dem karierten Kurzmantel für eine Geschichte haben? Sie geht raschen Schritts über die Kaiserallee, ihre Freundin mit der übergroßen Sonnenbrille, die sie wie eine Hummel aussehen lässt, führt das Wort.

Mit dem Privatjet aus Petersburg

Alles ist auf sie ausgerichtet. Die Schaufenster, die Speisekarten, die Hinweisschilder im Thermalbad, über die sich die Franzosen schon beschwert haben. Die Russen kommen nicht nur zum Spielen, Shoppen und Spazierengehen. Sie heiraten im Palais Gagarin oder in der Spielbank. Sie kommen, um ihr Kind auf die Welt zu bringen. Baden-Baden als Geburtsort, das macht was her in einem russischen Pass.

Sie kommen zum Großeinkauf von Medikamenten. Zur Zahnsanierung. Als solvente Klinikpatienten. Eine Russin soll Mitte der Neunziger alle zwei Wochen mit dem Privatjet aus Petersburg angeflogen sein, um sich Haare und Nägel richten zu lassen. In jedem Geschäft, Lokal, Maklerbüro, jeder Apotheke und Arztpraxis gibt es einen, der Russisch spricht. Das ist gut für die Russlanddeutschen, die finden leicht Arbeit. Nicht so gut ist, dass russische Kunden mitunter besonders hofiert und Einheimische dafür stehen gelassen werden. „Das schafft etwas böses Blut. Aber sie bringen eben am meisten Geld“, sagt Renate Effern.

Als sie in den Sechzigern beschloss, Slawistik zu studieren, hatte das nichts mit den Russen in der Stadt zu tun. „Sie waren gar nicht präsent, eher war man froh, dass sie weg waren.“ Sie empfand Baden-Baden damals als arg langweilig, wollte was Wildes machen. Heute wird sie dafür belohnt. Sie kommt kaum nach mit ihren Stadtführungen. Die Übernachtungszahlen von russischen Gästen haben sich in den vergangenen sieben Jahren verdoppelt – von 36 000 auf 80 000.

Ein Mythos ohne Fehler

„Für die Russen ist die Stadt ein Mythos ohne Fehler. Man wird nie einen Russen finden, der etwas an Baden-Baden auszusetzen hat“, sagt Effern. Andrerseits schotten sie sich ab. Mit Reportern sprechen sie schon gar nicht. „Sie sitzen mit verspiegelten Brillen in den Cafés, aber sie wollen nicht dazugehören. Das ist durchaus eine Parallele zum 19. Jahrhundert, damals waren die Fürsten auch lieber unter sich.“

Renate Effern ist Vorsitzende der Turgenjew-Gesellschaft. Sie will eine Gegenbewegung zur Stereotype des reichen Russen, der die Stadt leer kauft. Sie will Intellektuelle nach Baden-Baden holen, das russische Konsumzentrum zu einem Kulturzentrum machen. Jahr für Jahr organisiert sie historische Vorträge, Ausstellungen wie „Gäste aus dem Zarenreich“, Fachreferate wie „Migrationshintergrund als Chance“ zum internationalen Frauentag. Sie träumt von Literaturkongressen mit vielen russischen Wissenschaftlern – und weniger von Stadtführungen, bei denen zwischen Theater und orthodoxer Kirche per Handy Immobilien in London veräußert werden.

Viele der exponiertesten Häuser in Baden-Baden gehören heute Russen, Kasachen, Ukrainern: der Bayerische Hof, die Villa Chantal Grundig, die Villa Stroh oder der Forellenhof. Wie viele Immobilien in osteuropäischer Hand sind, ist schwer zu sagen. Viele Geschäfte werden über Strohmänner oder Holding-Gesellschaften abgewickelt. Und so finden sich oft nur Firmennamen auf den Klingelschildern.

Politiker, Industrielle und Glücksritter

Peter Bereit mag die Russen. „Sie sind Familienmenschen und sehr unkompliziert, kaufen mal kurz eine Uhr für 30 000 Euro im Vorbeigehen. Die Stadt braucht sie.“ Bereit ist Immobilienmakler und seit 30 Jahren im Geschäft. In seinem Schaukasten hängen Exposés auf Russisch, er hat eine russische Homepage, russische Vertragsvordrucke. Er braucht die Russen.

Anfang der neunziger Jahre fing es an. Mit Politikern, Industriellen und Glücksrittern, die clever, skrupellos oder protegiert genug waren, um aus dem zusammenbrechenden Sowjetreich Profit zu schlagen. Er fragte nicht nach, woher das Geld kam. Das macht er ja bei den deutschen Kunden auch nicht. Einer kam in einem farbenfrohen Jogginganzug und nicht gerade sauberen Turnschuhen, suchte sich eine Villa aus, wollte gleich hin. Bereit zögerte. Der Mann zog ein faustdickes Bündel Geldscheine aus seiner Polyesterhose wie auf dem Viehmarkt von Nischni Nowgorod: „Glauben Sie, ich habe kein Geld?“

Wenn sie was haben wollten, war jeder Preis recht. Und wenn es auch noch um Häuser ging, wo einst Großfürsten nächtigten, schossen die Offerten endgültig in den Himmel. „Früher waren viele unbedarft, halsbrecherisch und hatten viel zu viel Geld“, sagt Bereit. Sie kauften eine Villa für zig Millionen Mark, passten sie für weitere Millionen ihrem Geschmack an, um jetzt drei-, viermal im Jahr für ein paar Tage einzuziehen und ihren Begleiterinnen durch die Glaswand des Pools beim Brustschwimmen zuzusehen. Sonst steht das Haus leer.

Die Folgen der Bankenkrise

Mit der Bankenkrise wandelte sich der Markt. „Viele mussten richtig bluten“, sagt Bereit. „Die zweite Generation sind Unternehmer, die seriös gewirtschaftet, ihr Geld vernünftig verdient und nicht auf die Schnelle ein paar Milliarden gemacht haben.“ Objekte, die mehr als eine Million Euro kosten, kriegt er kaum mehr los. Die Russen kennen die Preise, wissen, was sie wollen und entscheiden schnell. „Ich habe noch nie ein Geschäft rückabgewickelt.“

Bereit spürt die Ukrainekrise. Mittlerweile macht er gerade noch 40 Prozent seines Umsatzes mit Russen, zu besten Zeiten waren es doppelt so viel. Früher hatte er zur Ferienzeit Laufkundschaft wie in einer Bäckerei. Jetzt: alles ruhig. „Sie haben Angst vor den EU-Sanktionen, aber auch vor den innerpolitischen Maßnahmen“, sagt Bereit. Dürfen wir unser Geld behalten? Werden unsere Konten gesperrt? Verbietet Putin uns vielleicht bald, Immobilien im Ausland zu besitzen? Bereit: „Das Geld ist immer noch da, aber man hält es zurück.“

Er führt in den ersten Stock, wo früher Fjodor Dostojewski wohnte und seinen Roman „Der Spieler“ schrieb. Jetzt empfängt einen hier gehobenes Bürointerieur. Wo früher das Schlafzimmer war, ist heute ein Kleiderlager – Peter Bereits Frau hat eine Boutique für Kindermode. Wo Dostojewski einst träumte, stapeln sich grau gestreifte Bundfalten-Stoffhosen und feuerwehrrote Trenchcoats. Echter Moskauer Schick.