Wer über Russland spricht, spricht automatisch über dessen umstrittenes Staatsoberhaut Wladimir Putin? Falsch. Beobachtungen von einem deutsch-russischen Schüleraustausch in der Region Stuttgart.

Stuttgart - Über dem Neckartal türmen sich schwarzgraue Wolkengebirge auf, aber dafür haben Paula, Polina, Maxim und all die anderen, die durch das Mercedesmuseum streifen, keinen Blick. Sie klettern in den WM-Bus der deutschen Weltmeistermannschaft von 1974. Orangefarbene Stoffsitze und Aschenbecher in den Rücklehnen. Zwei Schülerinnen stecken die Köpfe zusammen, sie tuscheln und glucksen. „In Deutschland schminken sich alle Mädchen“, erzählt die 14-jährige Paula der ein Jahr älteren Polina. Ihre Vornamen unterscheiden sich nur durch wenige Buchstaben, ihr Leben trennt viel mehr. Paula besucht das Leibniz-Gymnasium in Stuttgart-Feuerbach, Polina geht auf eine Schule in der russischen Stadt Samara, die an der Wolga liegt.

 

Für anderthalb Wochen kreuzen sich die Wege junger Russinnen und Russen mit jenen von deutschen Schülern aus dem Süden Deutschlands. Selten in seiner Geschichte hat ein Schüleraustausch zwischen deutschen und russischen Schülern unter schwierigeren Vorzeichen begonnen. Auch Paula, 14, hat zu Hause lange mit ihren Eltern über das Projekt diskutiert. Als sie erzählte, dass sie nach Russland gehen würde, hörte sie von ihren Freundinnen Sätze wie diesen: „Oh mein Gott, ist das sicher? Warum ausgerechnet Russland?“ Bei Moritz lief es ähnlich, in der „Tagesschau“, in der Zeitung wird Tag für Tag ein Bild von Russland gezeichnet, das keine Sympathien weckt. Putin, Panzer, Säbelrasseln. „Das hat meine Vorstellung von Russland schon verändert“, erzählt Moritz. Rainer Groh weigert sich, das Bild vom bösen Russland hinzunehmen. Groh ist 73 Jahre alt, er trägt Sakko, sein Haupthaar geht in einen weißen Vollbart über, wenn er redet, dröhnt seine tiefe Stimme. Der Lehrer ist seit ein paar Jahren im Ruhestand, doch dass nun von einem „neuen Kalten Krieg“ die Rede ist, lässt ihm keine Ruhe. Groh nimmt die Angelegenheit persönlich: „Wir haben mit unserem deutsch-russischen Schüleraustausch 25 Jahre Aufbauarbeit geleistet. Ich lasse nicht zu, dass das alles kaputt gemacht wird.“ Der pensionierte Lehrer hat über Jahrzehnte hinweg das mit Leben erfüllt, was Politiker in Sonntagsreden als „Brücken bauen“ bezeichnen. Er führte russische Jungen und Mädchen durch die Wilhelma, er erzählte ihnen die Geschichte der russischen Zarentöchter Olga und Katharina am württembergischen Königshof. Groh organisierte den Auftritt eines deutschen Schülerorchesters in der St. Petersburger Eremitage.

Rainer Groh bangt um sein Lebenswerk. Foto: Stollberg

Wenn er heute darüber nachdenkt, wie alles angefangen hat, denkt er unweigerlich an einen Sommertag des Jahres 1989 zurück. In Bonn regierte Helmut Kohl, in Ostberlin taumelte die DDR ihrem Untergang entgegen, und Stuttgart fieberte dem Besuch eines Popstars der Weltpolitik entgegen. In der Landeshauptstadt herrschte am 13. Juni 1989 Gorbimanie. Michail Gorbatschow und seine Frau Raissa besuchten das Ländle – ein Coup, den Lothar Späth eingefädelt hatte. Am Flughafen spielte eine Trachtenkapelle, im Marmorsaal des Neuen Schlosses warteten die geladenen Ehrengäste auf die Gorbatschows. Rainer Groh und fünf seiner Russischschüler standen am Absperrseil in der zweiten Reihe.

Am Vorabend des Besuchs hatte Michail Gorbatschow mit Helmut Kohl ein Abkommen unterzeichnet, das 44 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals den Schüleraustausch zwischen beiden Ländern ermöglichte. Für Rainer Groh begann mit dieser Unterschrift eine Lebensaufgabe, aber das ahnte er nur, als er mit seinen Schülern im Marmorsaal auf den richtigen Moment lauerte. Als Gorbatschow den Saal verlassen wollte, reichte ihm Rainer Groh die Hand. Er wolle ihm gerne die beste Russischschülerin der BRD vorstellen, sagt Groh. „Das will ich überprüfen“, antwortete Gorbatschow und unterhielt sich mit der Schülerin des Leibniz-Gymnasiums, das die Russisch-Olympiade gewonnen hatte. „Sie sprach besser Russisch als der offizielle Übersetzer“, erinnert sich Rainer Groh.

Die alten Vorurteile sind alle wieder da

Ein Vierteljahrhundert später ist Gorbatschow Geschichte und die deutsch-russische Freundschaft ein Pflänzchen, das zu verwelken droht. Vor anderthalb Jahren hat Rainer Groh den Austausch vorbereitet, der nun jeweils ein Dutzend Schüler aus Samara, aus Straßburg und aus Stuttgart zusammenbringt. Der Lehrer dachte über den hundertsten Jahrestag des Ersten Weltkriegs nach. Das Treffen sollte unter dem Motto „Damals Freunde – heute Partner“ stattfinden. Groh hielt das für passend, doch die Geschichte hat einen unerwarteten Verlauf genommen.

Die Krim-Krise wuchs sich zur Ukraine-Krise aus. Seitdem kämpft Rainer Groh in Feuerbach gegen alte Vorurteile und neue Ängste an. Inzwischen sind die neuen russischen Botschafter eingeroffen: Polina, Maxim, Angelina und ihre Mitschüler sind von Stuttgarts Partnerstadt Samara aus mit Zug und Flugzeug 36 Stunden unterwegs gewesen. Und es geht zunächst nicht um Putin, es geht um Pelmeni. „Meine Gastmama kocht sehr gut“, erzählt Polina – in Russland gehören Pelmeni, gefüllte Teigtaschen, zu den beliebtesten Gerichten.

Zuerst geht es um Teigtaschen

Doch die Schüler verbindet mehr als Maultaschen. Wie ein Bienenschwarm summt die Schülergruppe durch das Mercedesmuseum, die Automobilgeschichte bleibt nebensächlich. „In welchen Film gehen wir heute Abend?“, fragt Julian. Zwei Schülerinnen vergleichen ihre Smartphones, Maxim gähnt, die Lehrerin der jungen Russen schießt Erinnerungsbilder vor funkelndem Oldtimerblech. Polina erzählt von ihrem vierjährigen Bruder und davon, dass ihre Eltern in der Umweltschutzbranche arbeiten. Ihre Familie wohnt in einer Siedlung, die in den 1950er Jahren in der Chruschtschow-Zeit entstanden ist. „In letzter Zeit sind bei uns die Lebensmittelpreise etwas gestiegen“, sagt Polina in gutem Deutsch, und es ist das erste Mal, dass sie davon erzählt, wie sich der Krieg in der Ukraine auf ihren Alltag auswirkt.

In der Schule bleibt mehr Zeit dafür. Im dritten Stock des Leibniz-Gymnasiums kommen drei jungen Russen und drei deutsche Schüler zusammen. „In der Ukraine gibt es keine russischen Soldaten“, sagt Maxim. „Unsere Soldaten stehen nur an der Grenze, die wollen das Land schützen“ wirft Polina ein, was Moritz wundert: „Warum sollte die Ukraine Russland angreifen?“ Polina zupft an ihrem Sweatshirt, sie lacht ungläubig, „wenn einer aggressiv ist, dann ist es doch nicht Putin, sondern Obama“, sagt sie und erzählt, wie das russische Fernsehen berichtet. „Ich kann es nicht fassen, welche Nachrichten in Amerika über Russland verbreitet werden.“

Obama ist der Agressor

Mit einem Mal beginnt eine Politikstunde in Raum 38 des Leibniz-Gymnasiums, ohne dass Rainer Groh unterrichten würde. Maxim erzählt, wie über den Konflikt im russischen Fernsehen berichtet wird, dass aber seine Oma, die in Kiew lebt, die Sache ganz anders sieht als das Staatsfernsehen : „Die sagt, dass Russland die Ukraine überfallen hat.“ Wem glaubt Maxim, dem Fernsehen oder der Oma? Der schlaksige Junge zuckt mit den Schultern und erzählt davon, was er aus dem Geschichtsunterricht weiß: „Die Ukraine und Russland waren doch Brudervölker.“ Paula runzelt die Stirn, Moritz fragt sich laut, „ob alles stimmt oder ob es nicht auch einseitig ist, was wir in Deutschland im Fernsehen über die Ukraine zu sehen bekommen“.In der Feuerbacher Schule diskutieren die Schüler über Macht, Lügen und Politik. Sie gehören zu einer Generation, die mit Facebook und Twitter groß geworden ist und die sich ihre Wirklichkeit selbst aus vielen Einzelteilen zusammenbaut. „Die Massenmedien lügen oft“, sagt Moritz lapidar und ohne vorwurfsvollen Ton. Anfang Oktober fahren die Stuttgarter Schüler nach Samara, dort werden sie den Stalinbunker sehen und bei einem Abstecher nach Moskau ein deutsches Fernsehstudio besuchen. „In Russland lohnt es sich, genauer hinzusehen“, sagt Rainer Groh, der am Leibniz-Gymnasium immer für gegenseitiges Verständnis geworben hat. Egal ob gerade Tauwetter herrschte oder eine neue Eiszeit anbrach. In Samara wird auch Maxims Familie einen deutschen Schüler beherbergen. Maxim erhofft sich vom Schüleraustausch keine neuen politischen Einsichten, er will  nur eins: „neue Freunde kennenlernen“. Es wäre eine Freundschaft in Zeiten des Kriegs.