Die Wunder der Biegsamkeit aus Russland dominieren ihre Sportart nahezu nach Belieben – auch bei der Gymnastik-WM in Stuttgart haben die russischen Athleten die ersten beiden Titel gewonnen.

Sport: Gerhard Pfisterer (ggp)

Stuttgart - Maria Scharapowa ist mit Tennis ganz groß rausgekommen. Ursprünglich hatte die Russin aber eine ganz andere Sportart im Blick, wie sie 2013 einmal in einem Interview verraten hat: Rhythmische Sportgymnastik (RSG). Während diese in Deutschland ein Schattendasein als Randsportart ohne Aufstiegsperspektive fristet, hat sie in Osteuropa Tradition und ist ziemlich populär.

 

Speziell in Russland. Fast in jeder Stadt gibt es eine RSG-Schule oder einen RSG-Verein. Die Spitzenathletinnen haben Werbeverträge, lächeln von Plakatwänden und sind so bekannt wie der Turner Fabian Hambüchen hierzulande. Mindestens.

Die RSG ist in den 1940er Jahren in der ehemaligen Sowjetunion entstanden. Sie hat dort eine tief verwurzelte Verankerung. „Die Athletinnen sind Stars und verdienen teilweise Millionen“, sagt die ehemalige deutsche Spitzengymnastin Magdalena Brzeska (26 Meistertitel), die bei den Weltmeisterschaften in Stuttgart in dieser Woche als WM-Botschafterin fungiert. „So wie bei uns die kleinen Jungs zum Fußball geschickt werden, werden die kleinen Mädchen in Russland zur RSG geschickt.“

Russland ist die Supermacht dieser Sportart

Seit 1984 zählt die Sportart zum olympischen Programm. Abgesehen von der Premiere mit dem Olympiaboykott des Ostblocks hat stets eine Athletin aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten gewonnen. Die letzten vier Olympiasiege sicherten sich Russinnen: Julia Barsukowa (2000), Alina Kabajewa (2004) und Jewgenija Kanajewa (2008, 2012). In den letzten knapp 40 Jahren gingen alle WM-Medaillen im Mehrkampf an Osteuropäerinnen. Sieben der letzten zehn WM-Titel holten Russinnen, drei Ukrainerinnen. Es ist fast wie bei den Chinesen im Tischtennis.

Nach dem Rücktritt der Allesgewinnerin Jewgenija Kanajewa übernahm Jana Kudrjawzewa die Rolle der Prima Ballerina unter den russischen Wundern der Biegsamkeit. Die amtierende Weltmeisterin im Mehrkampf verzückte die Zuschauer in Stuttgart gleich bei ihrem ersten WM-Auftritt am Montag in der Qualifikation mit dem Ball. Aufgrund von Fußbeschwerden ließ sie den Start mit dem Reifen am Dienstag zur Schonung aus und war dann erst abends im Gerätefinale mit dem Ball zu sehen. Aufgrund der Streichwertung kann die 17-Jährige, deren Vater Olympiasieger im Schwimmen wurde, an diesem Mittwoch und Donnerstag (Keulen, Band) trotzdem noch ins Mehrkampffinale am Freitag einziehen.

In der Medaillenentscheidung mit dem Ball holte Jana Kudrjawzewa am Dienstagabend erwartungsgemäß das bereits neunte WM-Gold ihrer Karriere. Sie siegte mit 19,025 Punkten vor ihrer Landsfrau Margarita Mamun (19,000) und der Weißrussin Melitina Staniouta (18,350). Den ersten Titel dieser WM mit dem Reifen hatte sich zuvor im Anschluss an die offizielle Eröffnungsfeier die russische Nummer zwei gesichert: Margarita Mamun gewann mit 18,950 Zählern vor ihrer Landsfrau Aleksandra Soldatowa (18,650) und der Ukrainerin Ganna Rizatdinova (18,583).

Ein System aus Zuckerbrot und Peitsche

Das Reservoir an Talenten in Russland ist unerschöpflich, die interne Konkurrenz gewaltig. Die schmalschultrigen Schläppchenträgerinnen verkörpern das Schönheitsideal russischer Frauen – gertenschlank, stets geschminkt, immer erhaben wirkend. Den besten Athletinnen stehen viele Türen offen. Alina Kabajewa, der eine Liaison mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nachgesagt wird, machte beispielsweise in der Politik Karriere.

Die besten Russinnen trainieren in Moskau im Leistungszentrum Nowogorsk, das mit Zäunen und Kameras gesichert ist. Zweimal vier Stunden pro Tag üben sie. „Da bekommen wir einfach alles, was wir brauchen, um gute Resultate abzuliefern“, sagt Jana Kudrjawzewa. Alles wird dem Sport untergeordnet. Das Essen wird für jede Sportlerin auf die Kilokalorie genau zugeschnitten. Zum üppigen Betreuerteam zählen auch Lehrer. „Der Sport steht an erster Stelle, Schule und Ausbildung nur an zweiter – ich finde gut, dass wir in Deutschland ein anderes System haben“, sagt die Deutsche Meisterin Jana Berezko-Marggrander, die aus Toljatti bei Samara stammt.

Die russische Cheftrainerin Irina Winer ist die mächtigste Frau der RSG. Sie ist mit Alischer Usmanow verheiratet, dem reichsten Mann Russlands. Bei Bedarf kann die 67-Jährige für ihre Athletinnen auf einen Privatjet zurückgreifen oder sie auf eine Jacht einladen. „Durch die finanziellen Möglichkeiten ihres Mannes kann sie den Gymnastinnen und deren Familien ein Rundumsorglospaket schnüren“, sagt Wolfgang Willam, der Sportdirektor des Deutschen Turner-Bundes (DTB). „Das ist ein System à la Zuckerbrot und Peitsche.“