Mangelnde Pünktlichkeit, nicht funktionierende Schiebetritte und ein Heliumballon: Mustafa Gün ist S-Bahn-Fahrzeugführer – einer von fast 300, die in der Region arbeiten – und erzählt über seinen Alltag.

Stuttgart - So sieht also ein zufriedener Mensch an seinem Arbeitsplatz aus. Mustafa Gün schaut durch das kleine Fenster noch einmal zurück auf den Bahnsteig, dann nimmt er Platz im Führerstand, drückt den Hebel links vor ihm nach vorne – und der S-Bahn-Zug verlässt pünktlich um 9.38 Uhr den Plochinger Bahnhof. Einige Minuten später bremst Gün das rote 140-Tonnen-Gefährt behutsam ab, das zwischenzeitlich 115 km/h schnell war. Am Bahnsteig in Altbach kommt es auf den Zentimeter genau zum Stehen. Mustafa Gün beobachtet den Bahnsteig, fährt an, stoppt ab. So geht das noch neunmal, dann steht der 140 Meter lange S-Bahnzug in der unterirdischen Haltestelle im Hauptbahnhof – exakt nach Fahrplan. Ein Kollege übernimmt den Zug, Mustafa Gün hat Pause. „Ich bin jeden Tag mit Freude dabei“, sagt der S-Bahnfahrer, der eigentlich ein Triebfahrzeugführer ist, was Eingeweihte auch an den drei Streifen auf seiner Schulterklappe erkennen können – für Rangierlokführer gibt es nur zwei.

 

Täglich mit Freude dabei – manch ein S-Bahn-Fahrgast wird da nur müde lächeln nach einem Jahr, in dem die S-Bahn die ohnehin schon schlechte Pünktlichkeit noch einmal verringert hat. Im März 2014 mussten die Bahntochter DB Regio und der Verband Region Stuttgart eingestehen, dass die S-Bahnen im Jahr 2013 so unpünktlich wie noch nie waren. In den folgenden Monaten verschärfte sich die Lage weiter, weil die neuen Fahrzeuge der Bombardier-Baureihe ET 430 wegen nicht funktionierender Schiebetritte des öfteren liegen blieben und die Strecken blockierten, aber auch weil es immer wieder technische Störungen in Stellwerken und an Oberleitungen gab. Und manchmal stoppte ein losgelassener Heliumballon, der sich in den Leitungen verfing, die S-Bahnen für längere Zeit.

Dabei erwies sich die Verbindung von der Schwabstraße zum Hauptbahnhof, die alle sechs Linien nutzen, als Nadelöhr: Wenn es hier eng wird, wirkt sich das auf das gesamte Netz zwischen Marbach und Kirchheim/Teck, zwischen Herrenberg und Schorndorf aus.

Im Tunnel zählt jede Sekunde

„Jetzt kommt es auf jede Sekunde an“, sagt Mustafa Gün, als er mit dem ET 430 an diesem sonnigen Wintermorgen den Cannstatter Bahnhof verlässt, sich mit 60 km/h der Innenstadt nähert, über Weichen im Gleisvorfeld des Hauptbahnhofs in Richtung Tunnel geleitet wird. Wenn er Verspätung hat, kann er auf der Strecke kaum Zeit gut machen, obwohl die Beschleunigungs- und Bremswerte der acht Motoren zu den besten der Branche gehören. „Entscheidend sind die Standzeiten“, weiß Gün, die Zeit also, die die Fahrgäste zum Ein- und Aussteigen benötigen. Allerdings stellt die neue Baureihe die Nutzer bei jedem Halt vor eine kleine Geduldsprobe. Erst nach drei Sekunden können die Türen per Knopfdruck geöffnet werden – so lange dauert die automatische Prüfung, ob die S-Bahn auch wirklich steht. Nicht anders ist es beim Start: automatische Systeme sorgen dafür, dass Mustafa Gün erst dann Gas geben kann, wenn von allen Türen gemeldet wird, dass sie geschlossen sind. Diesen Ablauf kann Gün beschleunigen, indem er vom Führerstand aus zentral die Türen öffnet und schließt. „Das mache ich, wenn der Bahnsteig voll ist“, sagt er. Der Hintergedanke dabei: vielleicht nutzen die Fahrgäste dann alle Einstiege, denn immer wieder beobachtet Gün, dass sie sich vor wenigen Türen stauen – vor allem Gruppen und Schulklassen. „Und das kostet Zeit“, sagt er. Im Hauptbahnhof erleichtern Gün sogar Videokameras, deren Bilder auf vom Führerstand einsehbare Monitore übertragen werden, die Übersicht.

Priorität hat die Sicherheit

Die Haltezeiten gerade im Tunnel zu verringern – das ist eine der Maßnahmen, mit denen die Bahn versucht, die Pünktlichkeit wieder zu erhöhen. Mustafa Gün kennt den Druck, wenn der Fahrplan aus dem Takt gerät. „Wir tun dann, was wir können“, sagt er, „Priorität hat aber immer die Sicherheit.“ Das gilt auch, wenn er mit 50 km/h auf proppenvolle Bahnsteige einfährt und sich Menschen vor der weißen Sicherheitslinie aufhalten. „Ich hupe dann“, sagt er – und hofft auf die Vernunft, denn selbst bei einer Sofortbremsung dauert es, bis er zum Stehen kommt.

Mustafa Gün ist im gesamten 215 Kilometer langen Netz unterwegs. Er kennt die neuralgischen Stellen, das ist Teil der Ausbildung, die der gelernte Kraftfahrzeugmechaniker absolvierte, als er 2011 zur Bahn wechselte. Fast 300 Kollegen sind mit ihm im Wechseldienst rund um die Uhr im Einsatz, darunter 20 Frauen. Etwa 3000 Euro bekommen sie im Monat und ein 13. Monatsgehalt. Zehn Stellen sind derzeit frei. Gün hat den Wechsel nicht bereut. „Ich bin heute noch jeden Tag begeistert“, sagt er.