Bettina Bunk bemüht sich um die Abstimmung der Bürger übers Geld. Umso mehr schmerzt sie, dass nur wenige Bewohner des Nordens Interesse hatten.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Nord - Abgesehen von Klima und Karneval: Läge Stuttgart in einem Talkessel in Brasilien, wäre vieles anders. Busse und Bahnen wären billig. Das Kommunale Kino würde demnächst wieder eröffnen. Spielhallenbetreiber müssten Strafsteuer zahlen. Und womöglich wäre der Tiefbahnhof nicht in Bau, sondern längst beerdigt.

 

All diese Wünsche stehen in der Liste des Bürgerhaushalts ganz oben. Und in Brasilien „ist der verbindlich“, sagt Bettina Bunk. Sie sitzt für die SPD im Bezirksbeirat Nord, hat in Brasilien gelebt und ist die Sprecherin des hiesigen „Arbeitskreises Bürgerhaushalt“ – Freiwillige, die einmal monatlich tagen. Folgerichtig hat Bunk beantragt und durchgesetzt, dass die Stadtkämmerei dem Beirat über die Ergebnisse des Versuchs berichtet, die Stuttgarter selbst über die Verwendung der städtischen Einnahmen entscheiden zu lassen. Zumindest in Maßen, denn das letzte Wort spricht selbstverständlich das demokratisch gewählte Gremium, der Gemeinderat.

Die Brasilianer haben den Bürgerhaushalt erfunden

Vor 23 Jahren wurde der Bürgerhaushalt erfunden, eben in Brasilien, in der Gemeinde Porto Alegre. Seitdem verbreiten sich Spielarten der Idee weltweit. In Brasilien beginnt die Volksabstimmung übers Geld mit Versammlungen in den Stadtteilen. Bei denen werden Vorschläge gesammelt und Delegierte gewählt, die das Besprochene auf der nächsthöheren Ebene durchsetzen. Zwar entscheiden auch dort letztlich Parlamentarier, aber das Verfahren ist derart vielschichtig organisiert, dass kaum anderes als Zustimmung bleibt.

Davon ist Stuttgart noch weit entfernt. Der eine oder andere Vorschlag der Bürger ist zu einem Antrag der Fraktionen geworden. Die SPD bemühte sich um die oberen Plätze auf der Liste der Ideen. Andere suchten aus den 1745 Wünschen jene aus, die ihnen liebsam waren – unabhängig davon, ob sie in der Gunst der Stuttgarter auf den ersten oder den letzten Plätzen standen. Dennoch, meint Bunk, „hat der Gemeinderat das Thema sehr wohl ernst genommen“.

Für den nächsten Versuch in zwei Jahren will sie trotzdem mehr brasilianische Basisdemokratie importieren. Vor allem den Bezirksbeiräten „steht es gut an, sich die Vorschläge noch einmal genau anzusehen“, sagt Bunk – selbstverständlich mit einem Blick darauf, welche sich womöglich unabhängig vom Haushaltsplan verwirklichen lassen. Für die Zukunft hält Bunk es für wichtig, die Debatte übers Geld nicht fast ausschließlich im Internet führen zu lassen. Dort stimmten die Bürger ab. Dass vergleichsweise wenige Zuwanderer sich beteiligten und manches Projekt aus der Halbhöhenlage auffällig nach vorn rutschte, hält sie für eine Folge des Verfahrens.

Die Auswertung der Datenmasse dauert

Allerdings ist das einstweilen eine Vermutung. Bisher ist noch nicht einmal vollständig erfasst, welche Vorschläge der Gemeinderat in seinen Haushaltsberatungen beschlossen und welche er abgelehnt hat. Der Grund dafür ist die Datenmasse. 9000 Stuttgarter haben sich auf der Internetseite angemeldet, um zu diskutieren und über die Vorschläge abzustimmen. Erst die Vorbereitung, nun die Auswertung „hat uns schon ein gutes Stück Arbeit gekostet“, sagt Volker Schaible, der die Stadtkämmerei leitet, „aber wir haben’s gern getan“. In den nächsten Tagen soll das Ergebnis für alle Ideen veröffentlicht werden, mit denen der Gemeinderat sich befasst hat. Weitere statistische Auswertungen folgen.

Danach beginnt die Vorbereitung des nächsten Bürgerhaushalts. Anfang März reist Schaible nach Berlin, wo bei einem Kongress andere Kommunen über ihre Erfahrungen berichten. „Ich gehe davon aus, dass wir manches davon übernehmen“, sagt er. Danach entscheidet der Gemeinderat über das künftige Verfahren, damit auch darüber, ob wegen der neuen Aufgaben „die Personalausstattung überprüft wird“, wie Schaible es ausdrückt. Festzustehen scheint ungeachtet aller ausstehenden Auswertungen: Merkwürdigkeiten muss nicht erst der Gemeinderat stoppen. Mit Hunderten von Stimmen im Minus landeten beispielsweise die Vorschläge am Ende der Liste, Freibäder zum Saisonschluss für schwimmbegeisterte Hunde freizugeben, am Hauptbahnhof ein Riesenrad aufzubauen oder Abtreibungen in städtischen Kliniken zu verbieten.

Das wollten die Nord-Bürger

Die Bewohner des Nordens haben sich deutlich geringer am Bürgerhaushalt beteiligt als die anderer Bezirke. Unter den ersten 1000 Vorschlägen der Stuttgarter finden sich lediglich 14, die den Norden betreffen. Der oberste Wunsch davon landete in der Online-Abstimmung auf Platz 99 und war der einzige, der sich für den Bezirk erfüllte: der Erhalt des Kulturzentrums Wagenhallen. In den Haushaltsberatungen spielte der allerdings keine Rolle. Der Gemeinderat hatte sich schon zuvor entschieden, die Wagenhallen zu unterstützen. Alle anderen Vorschläge auf der Liste standen so weit unten, dass die Stadträte sich nicht mit ihnen befassten.

Als Vergleich für das Interesse an der Beteiligung im Norden zu anderen Bezirken mögen das Freibad auf dem Killesberg und das in Sillenbuch gelten. Für beide forderten Bürger Erhalt und Sanierung. Sillenbuch hat rund 24 000 Einwohner, der Norden etwa 26 000. Das Sillenbucher Bad kletterte auf Platz eins der Liste. Das auf dem Killesberg endete auf Platz 172.

Mangels Beteiligung blieben auch Vorschläge chancenlos, die durchaus sinnvoll erscheinen. Lediglich 89 Ja-Stimmen bekam der Wunsch, das Hölderlin-Gymnasium auszubauen und steht auf der Abschlussliste damit auf Platz 563. Der nahezu kostenlos zu erfüllende Vorschlag, die Sportplätze der Berufsschulen für die Anwohner zu öffnen, verhallte ungehört nahe Platz 700 und damit kurz vor der Klage darüber, dass der Radweg am Kräherwald in unzumutbarem Zustand ist, deshalb repariert und ausgebaut werden sollte.

Gewiss wünschenswert und sinnvoll wäre ein Jugendtreff im Stuttgarter Norden. Allerdings fanden sich für ihn lediglich 55 Unterstützer. Das reichte nur für Platz 966 und fällt damit in die Rubrik Sonstiges. Direkt dahinter folgt ein Anliegen, das gewiss nicht nur ein einziger Stuttgarter gelegentlich schon als dringlich empfunden hat. Die Toilettenanlage an der Doggenburg ist geschlossen. Sie wieder zu öffnen, wäre mutmaßlich nicht allzu teuer, aber auch dieser Vorschlag blieb unbeachtet.