Das legendäre Café Schurr in der Böblinger Straße zeigt Exponate aus Wolfgang Müllers historischer Ansichtskartensammlung.

S-Süd -

 

Wolfgang Müller ist kein Ewiggestriger. Niemand von diesen verklärten Nostalgikern, die der Vergangenheit hinterhertrauern wie einer verblichenen Romanze und ihr Heil in einer allzu romantisierten Idealvorstellung des Gestern suchen. Sicher, auch Müller ist seit vielen Jahren im Beirat der Initiativgruppe Stadtgeschichte, ist ebenfalls als externes Beiratsmitglied im Stadtmuseum im Wilhelmspalais involviert und historisch entsprechend versiert und interessiert.

Für ihn (Geburtsjahr 1935) war früher deswegen aber noch lange nicht alles besser, wie er sagt. „Natürlich fehlen mir einige der repräsentativen Gebäude wie das Kronprinzenpalais, doch ich kann mit dem jetzigen Verhältnissen sehr gut leben.“ Nichtsdestotrotz, so betont er, interessiere es ihn brennend, wie es früher einmal aussah. „Es geht aber nun mal nach vorn – und nicht zurück.“

Kaffee im Kännchen

Wolfgang Müller sitzt im Café Schurr. Böblinger Straße 85, beim Erwin-Schoettle-Platz, ein Ort, der von Gentrifizierung und Cold Brew verschont geblieben ist. Kaffee im Kännchen, dazu eine Brezel, Spitzendeckchen – der ideale Ort für eine Ausstellung wie diese, die Müller hier vor wenigen Wochen eröffnet hat. „Alt-Stuttgart“ heißt sie, umfasst ausgewählte Exponate aus seiner sagenhaft umfangreichen Ansichtskartensammlung. Zusammengetragen hat sie das Ehrenmitglied des Verschönerungsvereins in den letzten 40 Jahren, einige hat er auch schon dem kommenden Stadtmuseum vermacht. Sie zeigen ein anderes Stuttgart, bieten Einblicke in eine andere Welt, eine fremde Stadt geradezu, die man manchmal nur mit Müh und Not an einer Kirche oder einem erhaltenen alten Gebäude erkennen kann. Das macht nicht nur Spaß, es lässt uns unsere Heimat auch ganz anders erfahren.

Zu Hochzeiten besaß Müller rund 12 000 Ansichtskarten, viele geben mit ihren wenigen Zeilen Einblicke in das Leben vor 100 Jahren. Die Zahnradbahn nach Degerloch, der Hasenberg, das ehemalige Hotel Marquardt – ein Streifzug durch Müllers Sammlung ist auch ein Streifzug durch die bewegte Stadtgeschichte. Er selbst ist in der Sonnenbergstraße zuhause, der „vergessene Süden“, wie er ihn aus stadtpolitischer Sicht nennt. „Um uns kümmert sich kein Mensch, aber das hat manchmal auch etwas Gutes.“ Er kaut bedächtig auf einem Stück Brezel. „Dann wird man zumindest in Ruhe gelassen.“ Eigentlich will Müller das aber gar nicht. Er ist sehr aktiv im Stadtleben, wohnt Sitzungen bei, ist als Experte gefragt und ist ganz allgemein ein „Einmischer“, wie er mit einem neckischen Grinsen sagt.

Abi 1954

Wenn Müller ins Erzählen gerät, merkt man ihm die Passion für sein Hobby an. Der ehemalige Geschäftsführer eines Bauträgerunternehmens holt weit aus, weiß seine geschichtlichen Anekdoten mit wenig bekannten Fakten und Hintergründen zu unterfüttern. Zu jeder der 18 vergrößert auf Leinwand gezogenen Originalkarten kann das Ehrenmitglied des Verschönerungsvereins viel bis sehr viel erzählen, klares Steckenpferd, so sagt er selbst, sind aber die Innenstadtbezirke. Hier ist das fest installierte Zirkuszelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Marienplatz zu sehen („Das wurde 1916 dicht gemacht – aus Brandschutzgründen!“), da das Kaufhaus Schocken, das auch heute noch eine fantastische Figur machen würde („Für ein modernes Kaufhaus war der Bau aber natürlich viel zu klein“), dort drüben die Eingangshalle des alten Bahnhofs mit der Uhr („Früher hat man sich ‚unter der Uhr‘ verabredet wie heute an der Fruchtsäule auf dem Wasen“).

Auch ein Bild des alten Rathauses ist dabei. Ein Prachtbau, vergleichbar durchaus mit dem Münchener Gegenstück und natürlich nicht mit dem heutigen Bau („Im jetzigen Turm steckt noch ein Teil des alten Turms“) verwandt. „Damals“, so Müller, „gab es einen heftigen Streit darüber, ob man das Rathaus wieder genau so aufbauen sollte.“ Das zog weite Kreise: „Ich habe 1954 Abitur gemacht – und eine Aufgabe in Deutsch war ein Aufsatz über Für und Wider eines Rathaus-Neubaus. Ich habe damals“, so gibt er zu, „vehement für den Neubau plädiert – und verteidige ihn bis heute!“ Er ist bei allem Sinn für die Stadtgeschichte eben wirklich kein Historiker. „Alles im alten Stil wieder aufzubauen, ist doch sehr abwegig“, meint er und hebt die Hände: „Die Entwicklung geht doch weiter.“ – Neue Schätze lauern für Müller überall. Er stromert über Börsen und Flohmärkte, kauft und verkauft auf Ebay, hat sich auch schon mal der einen oder anderen zündenden Idee bedient, um seine Sammlung aufzustocken. „In der Anfangszeit habe ich auch mal im Evangelischen Gemeindeblatt inseriert. Ich dachte mir, das lesen die Witwen – und in der Tat“, lacht er, „ging der Plan gelegentlich auf.“

Die Postkarten sieht er als Ausgleich, als weiche Seite zu seinem zurückliegenden, durchaus fordernden Beruf. „Ich habe auch mal Christbaumschmuck gesammelt“, sagt er mit einem Schmunzeln. Längst gilt den Ansichtskarten sein Hauptinteresse. Für ihn sind sie ein Fenster in die Vergangenheit – und für die Cafébesucher eine wunderbar kurzweilige Reise in eine Zeit, als es noch in die Sommerfrische ging und ein König über die Stadt herrschte.