Jo Ungemach kennt den Abenteuerspielplatz West seit den Anfängen in den 1970er Jahren. Der Sozialpädagoge hat im Laufe der Berufsjahre sehr unterschiedliche Kindergenerationen kennengelernt. Heute, sagt er, seien Kinder viel bräver als vor zwei Jahrzehnten.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West - Seit 36 Jahren tummelt sich Jo Ungemach schon auf dem Abenteuerspielplatz West. Der diplomierte Sozialpädagoge hat sehr unterschiedliche Generationen von Kindern heranwachsen sehen – wilde, ungestüme, verwahrloste und gefährliche, brave und behütete. In diesem Jahr wird Ungemach 65 Jahre alt und wird sich in den Ruhestand verabschieden.

 

Die Situation, die er als junger Pädagoge antraf, als er 1978 beim Abenteuerspielplatz anheuerte, unterschied sich diametral von den heutigen Verhältnissen. „Die Kinder waren wesentlich gefährdeter durch Gewalt, Drogen, durch die Unaufmerksamkeit der Erwachsenen. Viele waren sogenannte Schlüsselkinder, die waren den ganzen Tag unbeaufsichtigt, viele hatten fünf und mehr Geschwister.“ Die Kinder und Jugendlichen selbst, sagt Ungemach, seien wesentlich aggressiver gewesen. „Es gab Jugendbanden mit 20 und mehr Mitgliedern, die klauten, was das Zeug hielt, und prügelten sich mit rivalisierenden Banden.“ Seine Arbeit sei „permanentes Krisenmanagement“ gewesen, ständig habe man dazwischengehen müssen. „Das war massiver Stress.“

Früher wurden Mädchen immer unterdrückt

Die Pädagogen waren zunächst ratlos. Sie brauchten dringend neue Konzepte. Denn mit der reinen Laissez-Faire-Lehre und der Maßgabe, den Kindern allen erdenklichen Spielraum zu lassen, richtete man bei dieser Klientel nur Unheil an. „Die Kinder waren mit der ihnen gebotenen Freiheit überfordert, weil ihnen zuhause nie Grenzen gesetzt worden waren.“

Diesen Job mussten nun Pädagogen wie Jo Ungemach übernehmen, die im Grunde ihres Herzens libertär gesinnt waren. „Wir mussten Regeln einführen.“ Dass die Kinder weiterhin kamen, führt Ungemach unter anderem darauf zurück, dass die Pädagogen ihnen auf Augenhöhe begegneten. „Die Kinder und Jugendlichen mussten lernen, dass Freiheit nur funktioniert, wenn gegenseitiger Respekt herrscht. Dass nicht der Stärkere Recht hat, sondern der Schwächere Vortritt.“ Das betraf sowohl das Verhältnis zwischen Älteren und Jüngeren als auch das zwischen Jungen und Mädchen, so Ungemach: „Mädchen wurden früher grundsätzlich unterdrückt. Die hatten keine Luft zum Atmen.“

Die Welt des Abenteuerspielplatzes an der Schwabstraße ist heute eine andere, und der Pädagoge muss nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen, wenn er den Kindern den Rücken kehrt, um im Büro ein paar Schreibarbeiten zu erledigen. „Der Verwaltungskram hat in den Jahren ganz schön zugenommen“, knurrt Ungemach. Auf der einst matschigen Wiese mit Bretterbuden steht heute ein stattliches zweistöckiges Gebäude mit großer Halle zum Tollen, mit diversen Werkstätten, einem Kino, einem Tonstudio, einem Büro und einem Raum für Versammlungen.

Kinder sind heute ziemlich verplant

Die Kinder heute seien viel disziplinierter, sagt Ungemach. Das erleichtere zwar ihm und seinen Kollegen die Arbeit, trotzdem beobachte er die aktuellen Entwicklungen mit Sorge: „Das ist die heftigste Veränderung, die es bislang gab. Die Kinder haben keine Freizeit mehr. Durch die Ganztagsschule und die zahllosen Zusatzangebote beispielsweise von Sport- und Musikschulen sind sie ständig eingebunden. Das freilaufende Kind gibt es kaum mehr.“ Der Pädagoge listet ein ganzes Kompendium an sozialen, psychischen, kognitiven und physischen Schwierigkeiten auf, denen diese Generation von Kindern und Jugendlichen ausgesetzt seien: „Es mangelt an Selbstständigkeit, Selbstorganisation, Entscheidungskompetenz, Bewegung, Entspannung, Spontaneität und der Begegnung mit verschiedenen Gruppen in einem Raum ohne strenge Regeln.“

Aber Ungemach ist nicht so der Typ fürs Lamento. Der Abenteuerspielplatz habe es über all die Jahrzehnte geschafft, ein offener und interessanter Ort zu bleiben. Er habe sich immer wieder neu an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen justiert und Einwanderer aus aller Herren Länder hätten den Laden aufgemischt. „Manchmal komme ich mir hier vor wie in Klein-New York. Es hat mir immer gefallen, dass hier unterschiedliche Kulturen gemeinsam in einem Raum leben können.“ Auch wenn er dieses Jahr seinen Abschied nimmt, will er nicht ganz verschwinden: „Ich werde weiterhin ehrenamtlich mitarbeiten“, verspricht Jo Ungemach.