Vor fast vierzig Jahren wurde Aribert Reimanns Musiktheater über Shakespeares „King Lear“ uraufgeführt. In Salzburg wirkt das Stück jetzt immer noch neu - und politisch hochbrisant.

Salzburg - Für die Mächtigen ist alles Bühne. Lear, der König, ist ein bisschen zu spät dran, winkend bahnt er sich einen Weg durch die Publikumsreihen in der Salzburger Felsenreitschule, betritt die lange, von Blumen übersäte Spielfläche, gibt vorne, wo ebenfalls Zuschauer sitzen, einem Mann die Hand, grüßt dort hinten einen anderen. Dann nimmt die Tragödie ihren Lauf. Dann wird es brutal.

 

„Es fließt viel Blut“, hat der Herzog von Cornwall verkündet, und der australische Regisseur Simon Stone, der Shakespeares Figur beim Wort nimmt, lässt Rotes spritzen, zelebriert die Blendung des königstreuen Gloster so, dass man kaum hinschauen mag, und nachdem eine von Lears zwei machtgeilen Töchtern das triefende Auge des Grafen in ihrer Hand betrachtete, erlebt man auf der Bühne ein wörtlich genommenes Blutbad. Stumme Menschen stehen auf, einer nach dem anderen, werden in eine rote Pfütze gestoßen; dann verlassen sie die von Bob Cousins gestaltete Spielfläche, und plötzlich sind alle Zuschauer vorne nicht mehr da. Sie waren nämlich gar keine, sondern nur Statisten, sogar der Intendant der Festspiele saß unter ihnen, und auch er ist weg. Tot, tot, alles tot. Am Ende ballen sich die dunklen Streichertöne, mit denen die 1978 in München uraufgeführte Oper begonnen hatte, wieder zu einem vierteltönig sirrenden Cluster, und auf der nun leer geräumten, ganz in steriles Weiß getauchten Bühne geht der König, zugleich Täter und Opfer, ohne Macht und Verstand dahin.

Ein Stück über Gewalt, Macht und die Hybris der Regierenden

William Shakespeares „King Lear“ ist ein fürchterliches Stück. Dass sein Blick auf Gewalt, Macht und auf die Hybris der Regierenden noch heute hochaktuell ist, macht die Sache nicht besser, und Simon Stone hat bei der letzten Opernpremiere der diesjährigen Salzburger Festspiele eben dieses Grausame des Schauspiels ins Bild gesetzt: dieses abgrundtief Schwarze, diese Grundverzweiflung. „Wir kamen weinend auf die Welt, weil wir auf eine Narrenbühne mussten“, stellt Lear resignierend fest, und so ist das hier wirklich. Man ist gepackt, angeekelt, aufgewühlt; auch wenn man Bilder wie diese aus dem Fernsehen kennt, hat dieses direkte Theater eine unmittelbare Kraft – auch dann noch, als die schreckliche Wirklichkeit der Szene nach und nach ins Surreale kippt.

Die Musik ist allerdings auch noch da – und wie! Im Orchestergraben sitzen die Wiener Philharmoniker, ein mächtiges Häuflein mit 48 Streichern, 24 Bläsern und einer groß besetzten Perkussionstruppe, die man auf dem Balkon rechts platziert hat. Franz Welser-Möst dirigiert, er steuert den riesigen Apparat sicher durch Passagen mit lauten Schlagwerkgewittern, unter den gezackten Koloraturkurven der zickigen Schwestern hindurch, hin zu hoch verdichteten Akkordschlägen – und zu tiefen Flötentönen oder zu einsamen Streicherlinien, die da liegen wie eine Möglichkeit. Oder wie eine Hoffnung: darauf, dass nach all dem Schrecklichen etwas anderes, Neues, vielleicht sogar Gutes, Versöhnliches kommen könnte.

Zu hören sind klingende Psychogramme der Figuren

Die Oper „Lear“ des heute 81-jährigen Aribert Reimann ist fast vierzig Jahre alt, in 27 Neuproduktionen wurde das epochale Werk seit 1978 gezeigt, und sie klingt – unglaublich!-, als sei sie gerade eben erst komponiert worden: so rauh, so radikal, so avantgardistisch in ihrem differenzierten Experimentieren mit den Klangmöglichkeiten des Orchesters. Und zu hören sind nichts Geringeres als Psychogramme der Figuren: Gefühlsbilder, tönende Momente von Angst und Grausamkeit. Manchmal pocht Lear zusammen mit dem Schlagzeugapparat das Herz bis zum Hals. Manchmal fühlt man sich wie unter Klangbeschuss. Der ist so hart, dass die anderen Momente umso stärker wirken: Momente der Utopie und der Schönheit. Diese starken Momente gehören zu Reimann, dem die singende, sprechende und singsprechende Stimme als das menschlichste aller Instrumente am nächsten ist.

Man kann Simon Stone vorwerfen, dass er nicht immer auf die Musik gehört hat. Manchmal verdoppeln sich Klänge und Bilder, dann hält man es kaum aus, und manchmal hätten die Figuren an psychologischer Tiefenschärfe gewonnen, wenn man der Musik neben der Bühne mehr Präsenz zugestanden hätte. Aber der Versuchsmodus, auch das Brüchige sind seiner Deutung ebenso einkomponiert wie Shakespeares und Reimanns Figuren, und es gibt etliche richtig starke Spielszenen – vor allem dort, wo so hinreißende Sängerdarsteller wie der Bariton Gerald Finley als Lear oder wie der Countertenor Kai Wessel als Edgar die Bühne füllen. Auch Anna Prohaska (Cordelia), Evelyn Herlitzius (Goneril), Gun-Brit Barkmin (Regan), Lauri Vasar (Gloster), Charles Workman (Edmund), Michael Colvin (Herzog von Cornwall) und das Stuttgarter Ensemblemitglied Matthias Klink (Graf von Kent) überzeugen mit großer Präsenz. Und Michael Maertens gibt einen auch zwischen Sprechen und Singen grandios irrlichternden Narren.

Am Ende sind die Blumen des Anfangs verschwunden, aus der Sprinkleranlage fällt kein Regen mehr, auf der Bühne steht ein Krankenhausbett, alles ist weiß, und Simon Stone lässt Reimanns und Shakespeares Apokalypse im Oratorischen enden: als Theaterspiel, dem sehr wohl bewusst ist, dass es die Wirklichkeit in einem künstlerischen Zerrspiegel zeigt. Und das uns alle, die wir das Scheitern des Königs betrachten, als Lears Erben, denen nichts bleibt als das Nichts – und ein Schimmer der Hoffnung. Die Oper verklingt in Schönheit; es ist kaum zu glauben.

Letzte Vorstellung an diesem Dienstag