Der Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler hat zehn Jahre lang gegen 17 beschuldigte SS-Männer ermittelt, von denen zehn bereits 2005 in Italien schuldig gesprochen wurden. Der 78-jährige Italiener Enrico Pieri, der 1944 seine Familie verloren hat, fordert eine Wiederaufnahme des Verfahrens durch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft.

Stuttgart - Das SS-Massaker im italienischen Sant’ Anna di Stazzema 1944 wird die Justiz weiter beschäftigen. Gabriele Heinecke, die Anwältin eines Überlebenden, hat am Donnerstag bei der Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens eingelegt. Der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler hatte zehn Jahre lang gegen 17 beschuldigte SS-Männer ermittelt, von denen zehn bereits 2005 in Italien schuldig gesprochen wurden.

 

Heinecke ist der Auffassung, dass die acht noch lebenden SS-Leute wegen Verdachts des hundertfachen Mordes vor ein Gericht gestellt werden müssen. Es gebe „einen hinreichenden Tatverdacht“. Heinecke wirft der Stuttgarter Staatsanwaltschaft vor, die Ereignisse vom 12. August 1944 falsch zu interpretieren. Damals haben Angehörige der Waffen-SS mehrere Hundert Zivilisten, auch kleine Kinder, ermordet. Heinecke und Häußler stimmen darin überein, dass dies ein Kriegsverbrechen war. Doch laut Häußler könne nicht ausgeschlossen werden, dass es sich nicht um eine geplante Aktion gehandelt habe, was eine Anklage ermöglich hätte.

Die SS-Männer haben fast das ganze Dorf ausgerottet

Die Anwältin hält diese Annahme für ein „Fantasieprodukt“. Es widerspreche sowohl der Aktenlage als auch den Erkenntnissen der Historiker. Danach habe die 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ eine breite Blutspur durch die Italien gezogen, stets mit dem erklärten Ziel der angeblichen „Bandenbekämpfung“. Die SS-Männer hätten dabei Tausende von Zivilisten umgebracht, „und zwar immer nach demselben Muster“.

Die Hamburger Anwältin beruft sich auf ein rechtskräftiges Urteil in Italien. Die Gerichte haben zehn SS-Männer wegen ihrer Taten in Sant’ Anna in Abwesenheit schuldig gesprochen. Da Deutschland eine Auslieferung abgelehnt habe, habe Italien beantragt, den Vollzug der Strafe in der Bundesrepublik zu vollziehen. Darüber müssten die zuständigen Landesjustizminister entscheiden, auch Rainer Stickelberger (SPD), denn einer der verurteilten Baden-Württemberger lebt noch. Nach Angaben des Justizministeriums ist aber kein Vollstreckungshilfeersuchen anhängig.

Vielleicht muss das Verfahren wieder aufgenommen werden

Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart konnte keine Angaben darüber machen, wann der zuständige Oberstaatsanwalt Peter Rörig über die Beschwere entscheiden wird. Gründlichkeit gehe vor Schnelligkeit, erklärte ein Sprecher. Man sei sich aber durchaus bewusst, dass die Beschuldigten hochbetagt sind. Wenn die Generalstaatsanwaltschaft zu der Erkenntnis kommen sollte, dass Häußler nicht ausreichend ermittelt habe, werde sie das Verfahren an die Staatsanwaltschaft in Stuttgart zurückgeben. Sollte Häußler das Ergebnis der Ermittlungen nach Auffassung der übergeordneten Behörde falsch gewertet haben, müsse Anklage erhoben werden. Falls die Beschwerde keinen Erfolg haben sollte, könnte Enrico Pieri ein Klageerzwingungsverfahren beim Oberlandesgericht anstrengen lassen.

Sobald aber der letzte noch lebende Beschuldigte aus Baden-Württemberg stirbt, muss die Justiz das Verfahren abgeben, vermutlich nach Hamburg, weil dort der Hauptbeschuldigte Gerhard Sommer lebt. Nach Auffassung von Anwältin Heinecke könne ihm nachgewiesen werden, „dass er persönlich vor Ort die Erschießung von Zivilisten befohlen hat“. Der Überlebende Enrico Pieri kam zur Übergabe der Beschwerde extra nach Stuttgart. Der Bürgermeister von Sant’ Anna, Michele Silicani, hat in einem Brief an die Generalstaatsanwaltschaft darum gebeten, das Verfahren wieder zu eröffnen. Ähnlich äußerte sich Francesco Catania, der italienische Generalkonsul in Stuttgart, bei einer Pressekonferenz, die von der Stuttgarter Initiative Die Anstifter organisiert wurde. Die Einstellung des Verfahrens hatte in Italien große Empörung ausgelöst.

Bürgermeister Wölfle empfing den Italiener

Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart wollte Pieri gestern zur Übergabe der Beschwerde nicht empfangen. Dies sei nicht üblich und „eine Frage der Gleichbehandlung“, erklärte ein Sprecher. So überreichte Pieris Anwältin den Schriftsatz. Vor dem Gerichtsgebäude in der Olgastraße versammelten sich etwa hundert Demonstranten. Sie hatten Schilder mitgebracht mit Aufschriften wie „Wir klagen an“ oder „Kein Pardon für SS-Mörder“.

Bereits vor der Übergabe hatte der Stuttgarter Bürgermeister Werner Wölfle (Grüne) Pieri empfangen. Die Entscheidung dazu fiel erst einen Tag zuvor. Ursprünglich hatten die Organisatoren versucht, einen Termin bei Ministerpräsident Kretschmann oder einem Vertreter der Landesregierung zu bekommen.