Carlos Santana hat ein Faible für das große Ganze. Am Samstagabend liefert der 68-jährige Gitarrist auf dem Stuttgarter Schlossplatz den zweiten Höhepunkt der Jazz-Open ab.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Carlos Santana liebt die ganz großen Bögen. Schlicht „IV“ ist das aktuelle, im April erschienenes Album betitelt, das an sein Werk „III“ anschließt, veröffentlicht 1971, vor einer halben Ewigkeit. Und gerne spielt er – das wird man im Verlauf des Abends deutlich merken – in Stuttgart, aber auch das nur in etwas größeren Abständen. Vor zwanzig Jahren hat er in der Landeshauptstadt gastiert, vor zwölf Jahren war er hierzulande zuletzt in Schwäbisch Gmünd zu erleben. Dass er ein Faible für das große Ganze hat, ist schließlich auch bei den ausgewählten Songs zu hören. Der 68-jährige Gitarrist spielt im Konzertverlauf lediglich drei Stücke von „IV“. Gleich als zweites Lied kommt bei seinem mit 6500 zu Recht begeisterten Zuschauern ausverkauften Konzert auf dem Stuttgarter Schlossplatz „Love makes the World go round“ von Deon Jackson (veröffentlicht 1965!), er bringt „People are you ready“ von General Echo, später dann im Doppelpack „Evil Ways“ von Willie Bobo und „A love supreme“ aus der Feder von John Coltrane sowie schließlich „Love, Peace and Happiness“ von den Chambers Brothers.

 

Musik wie eine wunderbare Wundertüte

Was von den quer durch die vergangenen sechzig Jahre entstandenen Songs bei Santana übrig bleibt, sind jedoch allenfalls die Torsos, kurze Melodiebögen oder Einsprengsel. Sie bieten vielmehr die Grundlage für seine Musik, die eigentlich…

…ja was denn eigentlich ist? Sie ist fast Rock, fast Tanzmusik, fast Pop, fast Latin, bisweilen auch (im wunderbaren intonierten „Choo Choo“) ein bisschen Mariachi. Sie ist nichts von alledem und doch alles davon. Eine wahre Wundertüte, und in dieser Mischung der Stile liegt das Geheimnis des Erfolgs des Amerikaners. Denn nichts an diesem Abend wirkt disparat, alles tönt wie aus einem Guss, die Musik fließt dahin, die Füße wippen, das Publikum tanzt und steht schon nach wenigen Songs.

Und es lässt sich begeistern vom extraordinären Gitarrenspiel dieses Saitenmeisters, der sich nicht etwa zu jedem Song ein neues Instrument reichen lässt, sondern mit zwei Instrumenten auskommt, entweder der einen goldenden oder der anderen goldenen E-Gitarre. Nur gelegentlich greift er zur auf einem Ständer unter seinem Mikrofon platzierten halbakustischen Gitarre, mit der er ein paar Latintunes in den Sound hereinwehen lässt.

Carlos Santana hat unverändert überdauert

Dieser Sound ist üppig, was allein an der großen Besetzung mit einem zweiten Gitarristen, zwei Perkussionisten, zwei Sängern, E-Piano, dem Bassisten Benjamin Rietveld sowie der Drummerin Cindy Blackman liegt. Wer die Dame vor fünf Jahren im Bix ihr Schlagzeug verdreschend erlebte, bekam bereits eine Ahnung von der etymologischen Wurzel, die dem Wort furios zugrundeliegt. Und wer sie, die seit sechs Jahren mit Carlos Santana verheiratet ist und neben ihm deutlich sicht- und hörbar im Mittelpunkt des Sounds steht, jetzt auf dem Schlossplatz erlebt, muss ihr unbedingten Respekt zollen. Für das wuchtige Fundament, das sie den Songs legt, für die treibenden Inserts, mit denen sie die Nummern befeuert, und (so man denn ein Freund des guten alten Schlagzeugsolos ist) für die Einlage, die sie bei „Corazon Espinado“ zunächst mit Rietveld bestreitet, der sich im Slapstil an seinem Bass die Finger halb wund spielt, ehe sie anschließend minutenlang alleine ungebändigt in die Felle zimmert.

Carlos Santana selbst hat die Zeitläufte, scheint’s, unverändert überdauert. Das nur für einen kurzen Moment entblößte Haupthaar unter dem Hut ist etwas schütter geworden, aber noch immer so lang wie zu den Woodstock-Zeiten, denen er auf den Videoschirmen mit Einspielungen Reverenz erweist. Man sieht auf den Leinwänden Bilder von vor fast fünfzig Jahren, aus längst vergangenen Zeiten, in denen Santana den Latinrock in den Kanon der Musik einführte, in denen er bereits früh eine musikalische Reife zeigte, die er nun nahezu zur Vollkommenheit entwickelt hat. Seine Gitarre singt und überstrahlt das Geschehen, ausufernd greift er in seinen Soli zu, er kostet ihre Mensur über die vollste Breite aus und landet bisweilen in den schneidenden Hochtonlagen schon auf dem in den Korpus hineinragenden Teil des Griffbretts, nur Zentimeter vor dem Tonabnehmer. Was für ein großartiger Musiker.

Hymnen auf Solidarität, Integrität und Nächstenliebe

Dazwischen wendet er sich mehrfach mit längeren Ansprachen ans Publikum. Mal augenzwinkernd, wenn er alle männlichen Anstrengungen der Welt nur auf den Zweck reduziert, die Frauen glücklich zu machen. Mal mit ernsthafterem Ton, wenn er gelebte menschlichen Werte wie Solidarität, Integrität und Nächstenliebe preist, die stärker seien „als CIA, FBI, Hollywood und CNN zusammen“. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind seine großen Themen; wie wichtig sie – auch – in diesen Zeiten sind, offenbart sich gerade schmerzhaft, allein für seine Appelle, die vordergründig blauäugig wirken mögen aber von Herzen kommen, darf man also dankbar sein.

Carlos Santana lächelt und lacht auf dem Schlossplatz, er ist sichtlich in seinem Element und blendend aufgelegt. Im Verlauf der exakt zwei Stunden streut er seine Klassiker ein, zunächst „Maria Maria“, später „Jingo“, „Black magic Woman“ und zum Abschluss „Oye como va“, das bruch- und pausenlos in die kleine Zugabe führt, die rätselhafterweise mit einem kleinen Intro aus „Roxanne“ von Police beginnt, ehe sie in einem kuddelmuddeligen Medley und einem letzten Gesang der Santana’schen Gitarre kulminiert. Dann ein letztes Lächeln, eine letzte Verbeugung. Zum Abschied lupft er seinen Hut. Wir ziehen unseren.