Wie steht es um die grün-schwarze Regierung? Ein fiktiver Bericht aus dem Inneren des Regierungsalltags, erzählt von Reiner Ruf. Alles ist wahr – oder auch nicht.

Stuttgart - Der Ministerpräsident tritt aus dem Landtagsgebäude. Ein prachtvolles Blau wölbt sich über Stuttgart, die Sonne gibt den Schwaben noch zwei südlichere Tage und jagt die letzte Süße in den schweren Wein. Über den Rasen am Eckensee watschelt eine Handvoll Enten, deren eine kraftvoll ins saftige Grün kackt. Drüben an der Oper steigt der Innenminister im beigen Nachsommeranzug aus dem Dienstwagen. „Thomas!“ Die Augen des Ministerpräsidenten leuchten. Er beginnt zu laufen, er breitet seine Arme aus. „Thomas! Endlich!“ Auch Thomas Strobl beschleunigt seine Schritte, ein freudiges Lächeln umspielt sein von Arbeit gezeichnetes Gesicht. „Winfried!“ Die beiden laufen und rennen, aber komisch, sie kommen sich nicht näher, sie treten auf der Stelle. Kretschmann schnauft, Strobl keucht. „Thomas!“ Das Antlitz des Innenministers verschwimmt, entschwindet ganz.

 

„Gibt es noch echte Männer im Land?“

„Seit wann stehst du auf Männer?“ Gerlinde Kretschmann zog die Vorhänge zurück und öffnete das Schlafzimmerfenster. Das Laizer Kirchengeläut dröhnte. Kretschmann kramte mühsam die Traumbilder aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervor. Hatte er im Schlaf geredet? Der Ministerpräsident wuchtete sich aus dem Bett. „Ich muss los“, verkündete er. „Zur Kabinettssitzung nach Stuttgart.“ Seine Frau Gerlinde musterte ihn sorgenvoll.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie auf Männer stehen.“ Atemlos wie die gesamte Ministerriege hatte Kultusministerin Susanne Eisenmann Kretschmanns Traumgeschichte gelauscht. Aber das sei kein Problem, das kenne sie aus der CDU. Agrarstaatssekretärin Friedlinde Gurr-Hirsch blickte sinnend in den Park der Villa Reitzenstein, wo sich zwei Feldhasen beschnupperten. „Gibt es noch echte Männer im Land?“ Skeptisch äugte sie hinüber zu Thomas Strobl. Der schwieg, was er selten tat. Der Ministerpräsident räusperte sich. „Grün-Schwarz ist eine im besten Sinne bürgerliche Koalition“, sagte er. Da gebe es gar kein Vertun. „Die klassische Ehe ist und bleibt die bevorzugte Lebensform der Menschen – und das ist auch gut so.“

Die Ministerrunde klopfte sich am Kabinettstisch die Fingerknöchel wund. Nur Winfried Hermann, der Linksblinker aus der Schar der mittigen Grünen-Minister, zickte versuchsweise. „Bei Familien gibt es in Deutschland eine große Vielfalt“, versetzte er. „Und diese Vielfalt ist auch gut so.“ Hermann bemerkte die verlegenen Gesichter um sich herum. Widerworte war man nicht gewohnt am Kabinettstisch. Gleich zu Beginn des gemeinsamen Regierens hatte der Ministerpräsident dekretiert: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der die Sache regelt – und das bin ich.“ Das hatte zumal die Christdemokrat*innen schwer beeindruckt.

Wille zur Macht und Lust am Chaos

„Ruhe jetzt“, befahl der Ministerpräsident. Die Frage sei, was der Traum bedeute. Auf seinen Wink hin ergriff Rudi Hoogvliet das Wort, Kretschmanns Regierungssprecher, Medium und Hofastrologe. Die Sache sei doch die, näselte das Medium und öffnete einen Hemdknopf: „Was wäre passiert, wenn sich der Herr Ministerpräsident und sein Vize getroffen hätten?“ Staatssekretärin Gurr-Hirsch gluckste: „Sie hätten sich geküsst.“ Hoogvliet fixierte die CDU-Politikerin: „Oder sich gewürgt.“ Die Ministerrunde erstarrte. Mit der Liebe, extemporierte der Hofastrologe, verhalte es sich so: „Wir suchen in dem anderen, an was es uns selbst ermangelt.“ Die CDU bewundere an den Grünen den Willen zur Macht, den Grünen gefalle der Mut der CDU zu Chaos und Selbstzerfleischung. „So waren wir auch mal“, seufzte Hoogvliet.

„Aber was bedeutet nun der Traum“, wollte der Ministerpräsident wissen. Hoogvliet kniff die Augen zusammen. „Liebe verwandelt sich schnell in Hass.“ Ein Zusammentreffen hätte zu einem Kuss führen – womöglich aber auch ein traumatisches Ende nehmen können. Kretschmann lauschte gebannt. „Dass wir uns im Traum nicht gekriegt haben“, keuchte er, „das bedeutet also . . .“ – „Genau“, versetzte Hoogvliet, „das bedeutet, dass die Zukunft dieser Regierung offen ist.“ Das Kabinett staunte. Genial, dieser Hofastrologe. Vizeministerpräsident Strobl nickte. Die Zukunft war offen. Darüber musste er nachdenken.