Er ist der Mann der Stunde: In diesem Jahr hat Edgar Selge, Mitglied im Ensemble von Armin Petras, die beiden wichtigsten Schauspielerpreise des Landes gewonnen. Auf die Sehnsucht nach Vereinfachung, die in der Gesellschaft grassiere, müssen die Bühnen reagieren, sagt der Schauspieler im Gespräch.

Stuttgart - Kein Schauspieler ist in diesem Jahr so schlagartig ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wie er: Mit seinem fulminanten Monolog „Unterwerfung“ nach Michel Houellebecq füllt Edgar Selge spielend das riesige Hamburger Schauspielhaus. Zuschauer und Kritiker sind begeistert, sehr zur Freude des 68-jährigen Selge, der häufig im Fernsehen und Kino zu sehen ist und deshalb zuletzt, wie er sagt, nur noch mit einem Bein im Theaterbetrieb stand. Seit dem Amtsantritt von Armin Petras gehört Selge zusammen mit seiner Frau Franziska Walser auch dem Ensemble des Stuttgarter Schauspiels an, wo er nach längerer Pause am Freitag kommender Woche wieder zu sehen ist: als Dorfrichter Adam in Kleists „Zerbrochnem Krug“.

 
Herr Selge, Sie sind ein vielbeschäftigter Schauspieler. Gerade haben Sie die Dreharbeiten zu einem Fernsehfilm beendet, der in Stuttgart spielt. Worum geht’s darin?
In dem Film mit dem Arbeitstitel „So auf Erden“ spielen Franziska Walser und ich ein Pastorenpaar, das einen homosexuellen Drogenabhängigen bei sich aufnimmt. Das löst eine Krise aus, sowohl in der freikirchlichen Gemeinde mit ihren einschränkenden Vorstellungen von Sexualität als auch beim Paar selbst: Der Pastor wird sich seiner homoerotischen Gefühle bewusst und gerät in einen Glaubenskonflikt. Der Film ist der Beitrag des SWR zum Luther-Jahr 2017.
Kann denn der Streit um Homosexualität tatsächlich noch einen ganzen Film tragen? Sind wir in Fragen der sexuellen Orientierung mittlerweile nicht weiter?
Der Film zeigt vor allem eine Innenschau seiner Figuren: wie erleben Gläubige ihre Nähe zu Gott und wie erfahren Sie Anfechtungen, die ihren Glauben verletzen. Außerdem fürchte ich, dass die politische Rechte im Hinblick auf homosexuelle Gemeinschaften gerade ein Rollback einleitet. Der Film ist aber auch eine Parabel über die Sehnsucht nach Vereinfachung komplexer Zusammenhänge, die in Glaubensgemeinschaften unterschiedlicher Art grassiert, seien sie nun christlicher, muslimischer oder anderer weltanschaulicher Art. Da stören abweichende Orientierungen sehr wohl. Auch in unserer Demokratie verlieren komplizierte Spielregeln und komplexe Vielfalt immer mehr an Attraktivität. Das hat auch Folgen fürs Theater.
Inwiefern?
Das Theater ist der Bruder der Demokratie. Das ist so seit der Antike, als in der Polis das eine aus dem anderen hervorgegangen ist. Dabei ist der Theaterbetrieb nicht unbedingt demokratisch strukturiert, aber die Sehnsucht nach dem gemeinsamen Arbeiten ist dort trotzdem stärker ausgeprägt als anderswo. Künstlerische Lebendigkeit entsteht im Theater über die Wechselwirkung von Ideen und Stimmungen. Es ist ein ständiger Austausch von Geben und Nehmen und Verwandeln. Zudem haben Theater den Anspruch, eine Stadtgesellschaft in ihrer Entwicklung zu begleiten – und darauf setzen auch die Menschen, die Abend für Abend kommen, um ihre ureigensten persönlichen Probleme, aber auch die Probleme der Gemeinschaft auf der Bühne behandelt zu sehen. Selbst wenn diese Hoffnung nicht immer erfüllt wird: Dass sie immer noch existiert, gehört für mich zu den Wundern des Theaters.
Eine Bühnenfigur, die Privates und Gesellschaftliches exemplarisch miteinander verbindet, verkörpern Sie derzeit im Hamburger Schauspielhaus. In Houellebecqs „Unterwerfung“ werden Sie als sexuell frustrierter, demokratiemüder François mit Ovationen im Stehen gefeiert. Ein grandioser Erfolg!
Das Haus ist auf jeden Fall bis auf den letzten Platz besetzt. Und die Leute sind an der Geschichte dran, obwohl sie nur einen einzigen Schauspieler sehen und einen Text hören, der eher kompliziert als einfach ist. Derzeit muss ich mit der „Unterwerfung“ aber pausieren, weil ich in Stuttgart bereits mit Armin Petras „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill probe und ich die „Unterwerfung“ nicht nebenbei wie ein gewöhnliches Repertoirestück spielen kann: Diese Inszenierung erfordert jedes Mal eine intensive Vorbereitung.
Ihr virtuoser Einsatz in Hamburg hat sich gelohnt: Für die Rolle als François sind Sie zum Schauspieler des Jahres gewählt und obendrein mit dem „Faust“ ausgezeichnet worden. Mehr gibt es für einen Bühnendarsteller in Deutschland nicht zu holen.
Die beiden Auszeichnungen freuen mich sehr! In den vergangenen zwanzig Jahren habe ich keinem Ensemble mehr fest angehört, ich habe mal in Zürich, Wien, Hamburg, Berlin und zuletzt immer wieder in Stuttgart gearbeitet. Weil ich parallel dazu auch immer mehr Filme gedreht habe, stand ich nicht mehr mit beiden Beinen im Theaterbetrieb. Umso mehr ist es ein Glück, mit einer Inszenierung wieder ins Zentrum zu rücken und damit zu spüren, was ich eigentlich bin: ein Theaterschauspieler. Natürlich verdanke ich diesen Erfolg auch dem Stück, das ich spiele . . .