Dass die Münchner Kammerspiel-Chefideologen Stemann und von Blomberg demnächst das Schauspiel Zürich übernehmen, ist symptomatisch: alte Hierarchien lösen sich langsam auf.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Unbekannt bis jetzt als Spielort: das Nationaltheater Reinickendorf, wobei der Leiter der vom Bund üppig subventionierten Berliner Festspiele, Thomas Oberender, sagt, es sei irgendwo im Norden Berlins, hinter dem Eichborndamm. Fürs Nationaltheater Reinickendorf angekündigt jedenfalls sind vom 1. Juli an, dem Tag der Festivaleröffnung, zehn Vorstellungen von „Hedda Gabler“, einem Stück des Norwegers Henrik Ibsen, 1891 uraufgeführt in München. Es handelt von einer unglücklich verheirateten, schwangeren Frau, die ihren ehemaligen Liebhaber demütigt, bis der sich in den Unterleib schießt. Durch Selbstmord stirbt anschließend auch Hedda Gabler.

 

In Reinickendorf werden der Norweger Vegard Vinge und Ida Müller inszenieren, deren Ankündigung in Bildern (bärtiger Mann bepinkelt sich, blutige Babys schreien, Frau zielt auf ihre Vagina) bereits ahnen lassen, dass Venge/Müller ihr Brutal-Splatter-Theater fortsetzen, mit dem sie an der Volksbühne viel Furore gemacht haben. Im Prater richteten sie schon weitere Ibsens – „Die Wildente“, „John Gabriel Borkmann“ – zu und ab: Vorstellungen dieses Theater der Banalitäten und Grausamkeiten dauerten bis zu zwölf Stunden.

„Borkman“ immerhin schaffte es sogar aufs Theatertreffen, wo heuer die Theaterwissenschaftlerin Doris Kolsch, Professorin an der FU, in einem Vortrag konstatierte, dass die Bühne insgesamt „nicht mehr der herausgehobene Ort des Schauspielers“ sei. Offensichtlich: Jeder Mensch kann sich heute digital selber in Szene setzen, Politik und Sport haben elementare Muster der Darstellung übernommen. Also werde der Schauspieler, argumentierte Kolsch, mehr und mehr zur „Plattform“, sei nicht mehr selbst Ereignis. Man kann ihn benutzen: als variable Textmaschine, Performer, Medium. Er soll nichts mehr entwickeln – und am besten schon gar keinen klassischen Text.

Pure Sprache – selten geworden

Letzte Zuckungen der allmählich überkommenen Art gibt es: Ausgerechnet die von Tomas Zierhofer-Kin neu formatierten Wiener Festwochen, wo wochenlang so genannte Hochkultur vermieden und durch uferlose Diskursveranstaltungen ersetzt wurde („macht was, schien man den Künstlern gesagt zu haben, egal was, egal, wie lange, wir schreiben dann ,Widerstand‘ drüber“, notierte gallig der kunstsinnige Wiener „Falter“), endeten mit Peter Brooks „Battlefield“, einer „Mahabharata“-Variante, mithin allerältestes Storytelling: pure Sprache, schauspielernde Menschen, Bühnenbildaufwand gen Null.

Es geht aber, da hat Doris Kolsch insgesamt wohl recht, gleichwohl etwas zu Ende in vielen großen Theatern, die sich lange Zeit mehr oder minder fortschrittlich noch in der Tradition einzurichten wussten. Auf einmal sieht man die Brüche, und sie sind teilweise brutal. Das musste feststellen, wer in München die Anfangszeit des Intendanten Matthias Lilienthal (vom Berliner Hebbel am Ufer) verfolgt hat, dem es binnen kurzem gelang, Grenzen zwischen den Sparten bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen.

War es bis dahin das Vorrecht der Avantgarde gewesen, diese vereinzelt aufzuheben, erklärte Lilienthal, es sei gewissermaßen Hausgesetz, die Hierarchien abzuschleifen. Dass ein Werk (lies: Text), sein Kontext und sein Hintergrund noch besonders entscheidend wären für die Präsentation, wurde damit in Abrede gestellt. Teile des alten (und klar: immer älter werdenden) Stammpublikums revoltierten, resignierten dann aber auch. Voller geworden ist es umgekehrt dadurch nicht an der Maximilianstraße, denn das neue Programm – das sich als partizipatives und soziales versteht – muss von den Jungen, in digitalen Zusammenhängen groß werdenden Menschen ja auch erstmal er- und verarbeitet werden (und bezahlt werden können).

Bedenkt man alle diese Vorzeichen, ist die Besetzung der Intendanz am Zürcher Schauspielhaus von 2019 an mit Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg als Intendanten ein ebenso folgerichtig anmutender wie dann doch überraschend großer Schritt. Der eine nämlich, Stemann, ist bisher der Hausregisseur der Münchner Kammerspiele gewesen; der andere, von Blomberg, der Chefdramaturg. Über die Personen wird auch eine Ideologie exportiert: der Prozess des Theatermachens, so drücken es die beiden designierten Chefs aus, solle wieder für eine Stadtbevölkerung erlebbar gemacht werden. Findungskommission und Aufsichtsrat des Theaters erwarten sich „unverwechselbares, politisch relevantes Theater“. Stehen von Blomberg und Stemann dafür? Man darf zweifeln.

Vulgärrealistische Vereinfachung

Nicht nur der Theaterkritiker der FAZ, Simon Strauß, Jahrgang 1988 und wirklich nicht partout rückwärtsgewandt, befürchtet, namentlich Stemann verkörpere alles, „was das Theater im Moment nicht brauchen kann, was es sogar gefährdet und klein macht: Selbstgefälligkeit, Hochmut und einen ungezähmten Zynismus. Statt Distanz auszuhalten, das Theater als eine Gegenwirklichkeit zu begreifen, entwickelt er eine Technik der vulgärrealistischen Vereinfachung, immer abgefedert durch einen ironischen Blick, nie zu verunsichern von Textinhalten und ihren tieferen Bedeutungen.“ Das resümiert Stemanns Positionen ziemlich genau.

Interessant und befremdlich an dieser Zürcher Verlobung von Stadt- und Identitätstheater sind noch zweierlei Dinge: Ursprünglich vorgesehen für den Posten war angeblich Milo Rau; ein Schweizer Wissenschaftler und Theatermann, dessen Dokumentartheater auch monomanische Züge hat, dem man aber eines bestimmt nicht abstreiten kann – unbedingte Ernsthaftigkeit. Rau indes hat es vorgezogen, nach Gent zu gehen, wo er aus dem dortigen losen Ensemble (vormals beschäftigt von einem Ex-Kammerspielintendanten, Johan Simons) wieder eine Art von Wander-und Volkstheatergruppe machen will. Ein Ansatz, der vielleicht so verkehrt nicht ist. Wenn die Leute oft schon nicht mehr ins Theater kommen, auch weil sie häufig simpel vergrault werden, muss man vielleicht wieder zu ihnen hingehen.

In Zürich wiederum hat Stemann schon längst einen Anker geworfen: Seit Anfang des Jahres leitet er an der dortigen Hochschule den Studiengang Regie. Er kann sich also ausbilden, wen er vielleicht hernach in seine Projekte integrieren möchte. Stemann ist 1968 geboren. Es war das Jahr, indem solche Ämterhäufungen besonders scharf kritisiert wurden. Hernach machten die meisten Kritiker, die in Machtstellungen kamen, dort munter und bedenkenlos weiter, wo ihre Vorgänger, zu fast hundert Prozent Männer, aufgehört hatten. Soviel sich im Theater ändern mag - an solchen Konstellationen ändert sich, scheint’s, nichts.