Nach ihrem Rücktritt hat Annette Schavan schnell klar gemacht, dass sie sich wieder um ein Mandat im Bundestag bewerben wird – ob mit oder ohne Doktortitel. Auf Wahlkampftour herrscht der Eindruck vor, dass ihr die Affäre nicht geschadet hat.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Erbach - Das Städtchen Erbach könnte sich ein Kulissenmaler idyllischer nicht ausgedacht haben. Auf einem Hügel, der steil aus dem Donautal aufsteigt, thront ein Schloss. Türme markieren das herrschaftliche Areal wie auf einem riesenhaftes Schachbrett. Die Fensterläden sind mit Ornamenten bemalt, die Zierlinien aus dem Wappen des Besitzers wiederholen. Der Zugang führt über eine Zugbrücke. Rostige Ketten halten die Holzplanken. In der Wehrmauer, die den Schlosshof umgibt, klaffen Schießscharten.

 

In der Sankt-Martinus-Kirche nebenan sind Fresken von Franz Martin Kuen zu sehen, eines Hauptmeisters der schwäbischen Rokokomalerei. Eines der Deckengemälde zeigt ein kurioses Motiv: die Seeschlacht von Lepanto; den Sieg einer christlichen Flotte über die Türken im Ionischen Meer anno 1571.

Drüben hinter den Schießscharten schlägt Annette Schavan ihre eigene Schlacht. Auch dabei geht es um Glaubensfestigkeit, um eine Art Rückeroberung des Terrains, auf dem sie seit fast 40 Jahren zu Hause war, um Niederlagen, um den ersehnten Triumph über Ungläubige. Vordergründig geht es aber nur darum, ihr Direktmandat für den Deutschen Bundestag im Wahlkreis 291 zu verteidigen.

Am 15. Februar 2013 hatte Schavan die einsamsten Stunden ihres Lebens zu durchstehen. Es war ein Freitagabend. Sie fuhr im Zug von Bonn nach Ulm. Allein. Der Dienstwagen blieb in Bonn. Seit 30 Stunden war sie nicht mehr Ministerin. Sie hatte ihren Rücktritt erklärt, nachdem die Universität Düsseldorf formell entschieden hatte, ihre Doktorarbeit wegen angeblicher Plagiate für nichtig zu erklären.

Die CDU-Frau muss sich ganz neu einrichten

Bei einem denkwürdigen Auftritt konnte die Fernsehnation miterleben, wie schwer es der Kanzlerin fiel, ihre Busenfreundin zu entlassen. Als Schavan ihr Amt an die Nachfolgerin übergeben, sich von den Mitarbeitern verabschiedet und den Zug bestiegen hatte, blieben ihr vier Stunden, um sich klar zu werden, was dies bedeutet: Absturz aus den höchsten Höhen der Politik, ein schmachvoller Karriereknick, ein vernichtendes Testat für ihren akademischen Ruf. Schavan hielt sich nicht lange mit Grübeleien auf. Sie ging am gleichen Abend in ein Küchenstudio, um sich neu einzurichten.

Nun muss die CDU-Frau sich in der Politik neu einrichten. Sie kämpft um ihr Überleben nach der Demontage. Auch den Kampf um ihre wissenschaftliche Ehre und ihren Doktortitel hat sie noch nicht aufgegeben. Bei ihrer Schlacht geht es aber ganz zivil zu, auch hinter den Schießscharten des Schlosses Erbach. Im Schatten der Kastanienbäume stehen Bierbänke, eingedeckt mit weißem Leinen. Der Kaffee wird in Porzellantassen ausgeschenkt. „Der Baron“ höchstpersönlich heißt Schavan willkommen, so wird er hier genannt: Constantin von Ulm-Erbach, Hausherr im Schloss und nebenbei auch CDU-Stadtrat. In seinem Grußwort kommt kein Doktortitel vor. So ist das auch auf den Wahlplakaten, die im Städtchen hängen, und in den Prospekten, die Schavan verteilt. Auf dem Land sei es doch so, dass „der Doktor eher entfremdet“, sagt sie selbst. Auf den Stimmzetteln ist sie allerdings mit Dr. vermerkt. Das entspricht auch der aktuellen Rechtslage. Ihre Klage gegen den Entzug des Titels ist beim Verwaltungsgericht in Düsseldorf anhängig. Solange darüber nicht rechtskräftig entschieden ist, steht es Schavan zu, als „Frau Doktor“ tituliert zu werden.

So tut es auch der Erbacher Bäckermeister Hans Seemann, der nicht nur den Kuchen für die CDU gestiftet hat, sondern auch den Ortsverband leitet. Den Leuten scheint es egal zu sein. Das Aufheben um die zwei Buchstaben sei „lächerlich“, meint einer, mit solchen unnützen Streitereien halte sich nur „die Politik“ auf. Die ganze Angelegenheit sei auch „viel zu lange her“, sagen andere. Ein Dritter wirft ein: „Ob die jetzt den Dr. hat oder nicht – wen geht das was an?“ Seine Frau befindet: „Die isch so gscheit wie vorher.“

96 Prozent der Parteifreunde haben sie gewählt

Nicht immer war Schavan in ihrem Wahlkreis so gut gelitten. Sie hatte wiederholt Ärger mit der eigenen Basis. Man warf ihr vor, sie lasse sich zu selten dort blicken. „Sie war in ihrem Wahlkreis so gut wie nie vorhanden, eher zum Ausspannen am Bodensee“, ätzt ein CDU-Stratege aus Baden-Württemberg. Nach einem unionsinternen Schulstreit vor zwei Jahren, als der Ministerin unterstellt wurde, sie wolle die Hauptschulen abschaffen, verweigerten ihr die eigenen Leute gar eine Fahrkarte zum Parteitag. Schavan erwies sich als lernfähig. Mittlerweile habe sie „fast jeden Ortsverein“ in Oberschwaben besucht, sagt ein CDU-Mann aus der Gegend. Auf dem Höhepunkt ihrer Plagiatsaffäre wurde sie mit 96 Prozent der Stimmen wieder zur Bundestagskandidatin gekürt, 2009 waren es nur blamable 57 Prozent.

Im Wahlkampf unternimmt Schavan alles, um dem Parteivolk nahe zu sein: Sie geht wandern auf der Alb, pilgert zur Dreifaltigkeitskapelle in Oberdischingen, besucht die Archäologen am „Hohlen Fels“, das Krippenmuseum in Oberstadion und lässt sich die Etymologie der schwäbischen Sprache erklären. Ein Abgeordnetenkollege findet: Schavan wirke „wie geerdet“. Eine ihrer Vertrauten aus der Partei meint: „Die ganze Affäre hat sie noch näher zu den Leuten gebracht.“

Schavans Wahlkampf wirkt eher jovial als kämpferisch. Die Verhältnisse sind ja auch kommod. Vor vier Jahren eroberte sie 42,8 Prozent der Erststimmen. Die Sozialdemokratin Hilde Mattheis lag 20 Prozentpunkte dahinter. Es gibt Dörfer in Schavans Wahlkreis, da bekommt sie neun von zehn Stimmen. Als sie ihr Ministeramt verlor, habe sie sich geschworen: „Komme, was wolle, ich bleibe im Bundestag“, sagt die CDU-Frau.

Den Frust und die Wut hat sie „weggesperrt“

Der Titelentzug hat sie wie ein Dolchstoß getroffen. Den Vorwurf der intellektuellen Unredlichkeit empfindet eine Frau wie Schavan, die noch mit 58 die Attitüde der Klassenbesten bewahrt hat, als Angriff auf ihre persönliche Würde. Sie hat das keineswegs verwunden. Es quält sie wie eine schwärende Wunde. Der Schmerz stachelt aber auch ihren Kampfgeist an. Es gehe nun längst „nicht mehr um die Frage, wie gedemütigt ich mich fühle“, sagt Schavan. Der Frust und die Wut wegen der Plagiatsvorwürfe dürften „in meinem Leben nicht zu viel Raum einnehmen“. Sie habe das „weggesperrt“. Das klingt trotzig. Aber durchaus auch so, als wolle sie den Schlüssel keineswegs aus der Hand legen. Sie sagt: „Ich kann denen doch nicht auch noch den Gefallen tun, dass ich daran zerbreche.“

In Ehingen wurden Schavans Plakate entlang der B 311 besudelt. Doch es hat keiner hämische Sprüche hinterlassen über ihre Titelaffäre, das verlorene Amt, das jähe Ende ihrer Ministerinnenkarriere. Es wurden die ersten beiden Buchstaben im Namen der Kandidatin übermalt. Übrig bleibt: „nette Schavan“. So gibt sie sich im Wahlkampf. Auf dem Wochenmarkt verschenkt sie Brillenputztücher mit ihrem Konterfei und plaudert mit den Passanten, als würde sie hier jeden Tag Gemüse verkaufen.

Der verlorene Titel spielt hier keine Rolle. Auch die Konkurrenz verschont sie damit. Spott und Schadenfreude bleiben ihr selbst in Wahlzeiten erspart. Auch in Berlin genießt Schavan Respekt über die Parteigrenzen hinweg – obwohl sie selbst in den eigenen Reihen nicht nur Freunde hat. „Die Persönlichkeit hat mit dem Doktor nix zum tun“, sagt ein Pensionär, der sich bei der Wahlkämpferin eben noch über die niedrige Rente seiner Frau beklagt hatte. Auch die SPD-Genossen, die an ihrem Reklamestand vergeblich auf Publikum warten, begrüßen Schavan mit Handschlag. Sie klettert prompt auf ein rotes Podest, das dort bereitsteht, und winkt von oben herab. Roland Ernst, ein Herr mit gelber Kappe und ebensolchem Schal, eilt herbei. Er wirbt um Stimmen für die FDP. Trotz des großkoalitionären Gebarens raunt er Schavan zu: „Es freut mich, dass Sie so in der Gunst der Menschen stehen.“

Welche Rolle Schavan in der Politik noch spielen kann, ist offen. Die Frage lässt Spekulationen blühen. Gerüchte über ein Comeback als Ministerin geistern durch die Lande. Sie selbst weiß, dass sie dazu erst den Rechtsstreit um den Titel gewinnen müsste. Ein Verhandlungstermin steht noch nicht an. Bis das Verfahren entschieden ist, dürften die Plätze im Kabinett verteilt sein. Eine Rückkehr in die Regierung sei „eigentlich nicht realistisch, egal wie es für sie ausgeht“, so heißt es in führenden Kreisen der Südwest-CDU. Die Ex-Ministerin stelle „nicht unbedingt die Zukunft dar“, stichelt ein Abgeordnetenkollege. Aus Angela Merkels Umfeld heißt es jedoch: Schavan könne „jede Rolle wieder spielen“. Sie selbst sagt: „Ich bin ja noch nicht tot.“