Im Stadtkreis Mannheim werden so viele Ehen geschieden wie nirgendwo sonst im Land. Statistiker meinen zu wissen, welche Umstände dafür verantwortlich sind.

Mannheim - Nach einer Viertelstunde sind fast zwanzig Jahre Ehe nur noch Geschichte. Steffen Sonnentag (Name geändert) verlässt den Sitzungssaal B 9 des Familiengerichts Mannheim als Erster. Der frischgebackene Ex-Ehemann lässt den Kopf hängen, vergräbt seine Fäuste in den Jackentaschen der schwarzen Daunenweste, wendet sich nach links Richtung Ausgang und verlässt das Gebäude. Allein.

 

Sophie Sonnentag, die eigentlich auch anders heißt, kommt ein paar Minuten nach ihm aus dem Saal im Erdgeschoss des Amtsgerichts. Die 42-Jährige sucht den Mann, den sie am 16. September 1997 als junge Frau geheiratet hat – und mit dem sie von amtlicher Seite aus nun nichts mehr verbindet. Nichts außer einem gemeinsamen Namen, einem erwachsenen Sohn, einem halben Leben. „Er hat sich wieder benommen wie ein Bauer“, sagt sie. „Er ist einfach so gegangen.“ Sie, die auf die Scheidung gedrungen hatte, hätte nach der Verhandlung gerne noch ein paar Worte mit ihm gewechselt. „Ich habe jetzt das Bedürfnis, zu ihm zu fahren“, sagt Sophie Sonnentag. „Wir müssen uns doch aussprechen!“

Der Stadtkreis Mannheim führt die baden-württembergische Scheidungsstatistik konstant an. Mehr als 600 Ehen werden im Familiengericht jedes Jahr geschieden. 2016 lag die Scheidungshäufigkeit bei 42 Prozent. Das sind vier Punkte mehr als im Landesdurchschnitt. Und es ist ein relativ konstanter Wert. Es ist schon 35 Jahre her, dass die Scheidungshäufigkeit in Mannheim unter die 40-Prozent-Marke gerutscht ist.

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Familiensoziologen haben dafür mehrere Erklärungen. So werden Ehen, in denen beide Partner berufstätig sind, eher geschieden als Bündnisse, in denen das alte Rollenbild gelebt wird. Die allerschlechtesten Chancen auf einen echten Bund fürs Leben haben: kinderlose Paare mit verschiedenen Nationalitäten, die kein Wohneigentum besitzen, konfessionslos oder protestantisch sind, in einem Stadtkreis leben und bei denen die Frau womöglich auch noch mehr verdient als ihr Gatte. Umgekehrt bedeutet das: Katholische Paare mit Nachwuchs und eigenem Häuschen auf dem Land werden am häufigsten erst durch den Tod geschieden.

Vieles aus dieser Statistik lässt sich am Beispiel der Scheidungshochburg Mannheim darstellen. Der überdurchschnittlich hohe Migrantenanteil etwa: Fast jeder vierte Mannheimer hat einen Migrationshintergrund, landesweit ist es nur etwa jeder Siebte. Zudem hat Mannheim den zweithöchsten Anteil an Konfessionslosen und den zweitniedrigsten Wert an Haushalten mit selbst genutztem Wohneigentum.

Zurück vom großen Ganzen zur Chronologie des Einzelfalls: Um kurz nach neun Uhr morgens betritt Sophie Sonnentag das Amtsgericht. Um halb zehn beginnt die Verhandlung. Sie kommt ungern zu spät. Im Wartezimmer im Gerichtsgebäude zieht sich die 42-Jährige den hellen Wollmantel aus. Sie trägt ein elegantes, eng anliegendes, gestreiftes Strickkleid und eine taillierte Lederjacke. Dann holt sie sich einen Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten. Sie ist nervös, sie hat Angst, ihr Mann werde den Termin platzen lassen. „Er würde das am liebsten hinauszögern“, sagt sie.

Der Noch-Ehemann erscheint in Jogginghose

Das Telefon klingelt. Ihr Noch-Ehemann ruft an und lässt sich von ihr den Weg ins Amtsgericht erklären. „Das ist direkt gegenüber der Uni.“ Es ist ein bisschen wie immer. Sophie Sonnentag hat ihrem Steffen in den vergangenen 20 Jahren oft gesagt, wo es langgeht – gleich geht es in den Sitzungssaal, in der Sache Sonnentag versus Sonnentag.

Im Wartezimmer studiert ein Anwalt derweil Akten. Sein Mandant ist Mitte 20, seit noch nicht einmal einem Jahr Vater, aber sein Kind hat er nie gesehen. Vor Gericht will er ein Umgangsrecht erstreiten, was womöglich schwierig wird. Die Mutter sagt, sie habe Angst vor ihm, und macht Gewaltschutz geltend. „Da wird mit allen Bandagen gekämpft“, sagt Bodo Winterroth aus Heidelberg. „Solche Verfahren sind grässlich.“ Dann kommt sein Mandant, sehr ernst, den Hemdkragen bis oben zugeknöpft. Er wirkt sehr aufgeregt.

Sophie Sonnentags Mann, nur drei Wochen älter als sie, erscheint schließlich auch noch zu seiner Scheidung: in Jogginghose, einem schwarz-weiß gemusterten Wollhemd und einer Daunenweste. Er ist Gabelstaplerfahrer von Beruf. Seine Frau hat sich nach ihrer Lehre im Lauf der Jahre zur Geschäftsführerin einer Steuerberatungsfirma hochgearbeitet. Sie fühlte sich schon länger einsam in einer Ehe, in der sich der eine nach Feierabend in seinem Hobbyraum verkrümelt und die andere eine Fortbildung nach der anderen macht. Sie wollte eine Paartherapie. Er fragte warum – und sagte dann Nein.

Wie schützt man die Kinder nach dem Ehe-Aus?

Sie mochte irgendwann nicht mehr mit einem Mann zusammenleben, der die Kleidung anzieht, die sie ihm hinlegt, aber „mit dem ich höchstens zwei Worte pro Woche wechsle“. Nach der Trennung war er zunächst zu seiner Mutter gezogen – bis ihm seine Noch-Ehefrau eine eigene Wohnung organisierte. Der gemeinsame Sohn, 19 Jahre alt, blieb erst bei Sophie Sonnentag. Bis sie sich frisch verliebte. Den neuen Partner wollte ihr Sohn nicht akzeptieren, er zog zum Vater. „Das war schlimm für mich“, sagt sie, bevor sie den Sitzungssaal B 9 betritt.

Nach dem Scheidungstermin zweifelt Sophie Sonnentag plötzlich. „Ich weiß einfach nicht, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe“, sagt sie. Ihr kommen die Tränen. Vor der Richterin habe sie sich „wie eine Verbrecherin gefühlt, die etwas sehr Wertvolles zerstört“ – die eigene Familie.

Annette Baumann-Nitsche kennt diese Schuldgefühle. Die Therapeutin berät seit mehr als 25 Jahren Paare in Trennung und leitet bei Pro Familia in Mannheim die Kurse „Meinem Kind soll es gut gehen“, Seminare, wie sie auch in Villingen-Schwenningen oder in Waiblingen angeboten werden. Menschen in Trennung lernen dabei Strategien, wie der Konflikt der Erwachsenen möglichst wenig auf die Kinder übertragen wird – und dass das Ende einer Beziehung nicht unbedingt auch ein Aus für die Familie bedeuten muss, wenn alle mitmachen.

Der Scheidungsrichter als Schiedsrichter

„Die Väter von heute geben sich mit einem Umgangsrecht am Wochenende nicht mehr zufrieden“, sagt Baumann-Nitsche, „sie wollen auch den Alltag mit ihren Kindern leben.“ Das merkt sie nicht nur daran, dass immer mehr Männer ihre Kurse besuchen. In ihrem jüngsten Seminar etwa saßen fünf Väter und zwei Mütter. Immer öfter verbringen die Sprösslinge die eine Woche beim einen, die andere Woche beim anderen Elternteil. Diese „neue Väterlichkeit“, sagt Baumann-Nitsche, verursache durchaus auch neue Konflikte: „Nicht alle Mamas freut das, wenn die Papas mehr wollen als ein gemeinsames Wochenende.“ Doch: „Wenn Eltern gut kooperieren, klappt jedes Erziehungsmodell.“ Das ist jedenfalls ihre Erfahrung.

In Baden-Württemberg sind jedes Jahr etwa 20 000 Kinder von einer Scheidung betroffen. Nicht erfasst sind dabei die Söhne und Töchter der Eltern, die ohne Trauschein zusammengelebt haben. Am Amtsgericht Mannheim wird das Elternkonsensmodell praktiziert: Das Gericht versucht, sich im Streit trennende Paare an das Jugendamt oder an Hilfsorganisationen wie Pro Familia zu vermitteln – mit dem Ziel, trotz aller unüberbrückbaren Differenzen wenigstens für das gemeinsame Kind eine tragfähige Brücke zu bauen. „Wenn es Konflikte gibt, ist es für Eltern selten von Vorteil, wenn wir das entscheiden müssen“, sagt Andreas Brilla. Der 43-jährige Richter leitet den Fachbereich Familien- und Betreuungsgericht. Am Ende einer Beziehung würden Menschen oft genauso unvernünftige Entscheidungen treffen wie am Anfang, wenn sie frisch verliebt sind, sagt er.

Steht die Ehe vor dem Aus, kann man über vieles streiten: über den Hausrat, die Wohnung, den Unterhalt, die Rentenansprüche – und eben die Kinder. „Wir Juristen sind da nur bedingt die Richtigen, diese Menschen wieder zur Vernunft zu bringen“, sagt Brilla. Auch er erlebt in seinem Berufsalltag, „dass Besuchsväter am Aussterben sind“, dass Väter mehr wollen und ihre Rechte auch einfordern.

Kämpfende Väter

Brilla stört es, dass Scheidungsrichter oft als Schiedsrichter zwischen verstrittenen Parteien wahrgenommen werden. „Wir erleben in unserem Alltag viele Paare, die ihre Trennung hinkriegen und sich im Sinne ihrer gemeinsamen Kinder verständigten.“ Daneben gebe es eine ganze Reihe an Paaren, die sich „mit sanftem Druck“ auf ein Konsensverfahren einließen – so wie die Mandanten des Heidelberger Anwalts Bodo Winterroth an diesem Tag: Der Vater darf sein Kind in Anwesenheit eines Jugendamtsmitarbeiters künftig sehen. „Die Fronten sind verhärtet“, sagt der Jurist, „aber das ist ein Weg, der klappen kann.“

Nichts klappt mehr, „wenn ein Elternteil blockiert“, sagt der Richter Brilla. Man könne als Richter noch so viele Umgangsregeln formulieren und Zwangsgelder androhen: „Wenn es das Kind zu sehr belastet, weiter im Streit zerrieben zu werden, lassen wir Vater oder Mutter hinten runterfallen.“ Oft seien es dann die Väter, „die sich wund kämpfen und irgendwann den Glauben an die Justiz verlieren“.

Steffen Sonnentag hat etwa eine halbe Stunde nach der Scheidung versucht, seine Ex-Frau anzurufen. Sophie Sonnentag hat ihr Telefon nicht gehört, sonst hätte sie abgenommen. Sie werde zurückrufen, sagt sie. Doch zum Gespräch kommt es nicht. „Vielleicht war es gut so“, sagt sie eine Woche später. Vorbei ist vorbei.