Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat dem Schriftsteller Rainald Goetz in Stuttgart den Schiller-Gedächtnis-Preis verliehen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Hammer, wie dieser Abend beginnt: Edgar Varèses Stück „Hyperprism“ aus dem Jahr 1924. Der maximale Rumor einer vergangenen Gegenwart kracht durch die honorable Erwartungshaltung im Konzertsaal der Stuttgarter Musikhochschule. Politik, Kunst und Kultur sind zusammengekommen, um die wichtigste Literaturauszeichnung des Landes, den Schiller-Gedächtnispreis 2013 an den Genius der Jetztzeit, den Schriftsteller Rainald Goetz, zu übergeben. Hammer eigentlich auch dies. Denn wer diesen nur alle drei Jahre verliehenen Preis erhält, ist, ob er will oder nicht, zu einem Klassiker geworden, nicht nur mit Blick auf den Namensgeber, sondern auch auf die Riege der Geehrten: Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Martin Walser, Botho Strauß, Peter Handke.

 

Goetz’ seit 1982 in Romanen, Dramenzyklen, Prosatexten, in Fernseh-, Zeitungs- und Erlebnisprotokollen aufgehäuftes Werk ist eine furiose und wilde Mitschrift der laufenden Ereignisse. Der erste Techno-Roman „Rave“ gehört dazu, der erste Internetroman „Abfall für alle“, in dem Welt und Ich kollidieren und in Tausende von Textschnipseln auseinanderfetzen. Zuletzt hat er mit „Johann Holtrop“ den ersten Roman geschrieben, der, so die Jury, die Psychopathologie der Wirtschaftswelt klarsichtig auf den Punkt gebracht habe.

Aber wie verträgt sich hypernervöse, sprungbereite Gegenwärtigkeit mit Klassizität? So wenig, wie ein auf der Autobahn rasender grüner Ministerpräsident mit den Geschwindigkeitsmaximen seiner Partei. Trotz seines gewissensüberschreitenden Einsatzes kommt Winfried Kretschmann ein wenig verspätet. Doch dass er es sich bei aller Termindrangsal nicht nehmen lässt, den Preis selbst zu übergeben, ist in diesem speziellen Fall einmal mehr wert als automobile Korrektheit: nicht um die Gelegenheit nutzen zu können, in der von grün-roter Sparpolitik aufgescheuchten Musikhochschule ein wenig gute Laune zu verbreiten, sondern um das Verhältnis von Politik und Kunst in einer über zeremoniale Lippenbekenntnisse weit hinausgehenden Weise zu würdigen. Kretschmanns Rede ist geeignet, den von seinen zuständigen Ressortverantwortlichen bisweilen erschütterten Glauben an das Gehörtwerden kultureller Anliegen wieder zu befestigen. Denn was er vorträgt, klingt erfreulich wenig nach tintenklecksendem Referentenwissen, sondern nach ernsthaften eigenen Überzeugungen.

Ein Hochgeschwindigkeitsritt durch sein Werk

Ohne forcierte Analogiebildungen sucht und findet der Ministerpräsident Anknüpfungspunkte in der medizinisch-historischen Doppelprofession von Schiller und des in seinem Namen Geehrten. Der 59-jährige in München geborene und in Berlin lebende Goetz hat in beiden Disziplinen promoviert und als Mediziner sich ähnlich wie Schiller mit den physiologischen Voraussetzungen von Bewusstsein und Geist beschäftigt. Die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit eine beide, so Kretschmann. Schiller habe in seinem Programm der ästhetischen Erziehung Kunst und Literatur die Aufgabe zugewiesen, gewissermaßen die vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates zu legen: „Literatur sollte leisten, was Gesetze und Institutionen nicht vermochten.“ Goetz folge einem Kunstbegriff, dessen Funktion es sei, die geläufige Realität mit einer anderen Version derselben Realität zu konfrontieren. Eingefahrene Perspektiven erwiesen sich in der Kunst als auflösbar, die Welt, wie wir sie kennen, zeige sich als anders denkbar. „Ohne einen solchen wachen Sinn für Alternativen kann Demokratie nicht funktionieren.“

Doch bevor Goetz zu seiner Dankesrede ausholen kann für den mit 25 000 Euro dotierten Preis – Fördergaben zu je 7500 Euro erhielten die jungen Dramatiker Mario Salazar und Mathilda Fatima Onur –, sei noch kurz ein Blick auf die performancehaften Aspekte des Abends geworfen: szenische Energiesplitter aus Goetz-Dramen, dargeboten von Studierenden der Schauspielschule, die von dem hohen Ausbildungsniveau des Hauses Zeugnis ablegen. Performancehaft, wenngleich unfreiwillig, darf man auch den Hochgeschwindigkeitsritt durch Goetz’ Werk seiner Laudatorin Stefanie Carp nennen. Carp, eine der wichtigsten Dramaturginnen unserer Tage, stäubte nur so dahin: über dem Autor gemäße Begriffsballungen, Namenskataloge, Luhmann, Wittgenstein, Fauser, Hirst, Meese. Eines haben wir kapiert: „alles, alles, alles geht uns an“ – der Rest ist einfach zu viel.

So einfach macht man Goetz nicht zum Klassiker

Dann endlich der Meister selbst, von Frisur und Haarfarbe inzwischen Kretschmann nicht unähnlich, nur alles eine Nummer kleiner, dafür doppelt so schnell, mindestens. „Nun also rede, sprich und zeige dich“ – so beginnt etwas, mit dem Goetz vermutlich ein weiteres Genre neu begründet hat, die Dankesrede aus dem Geist dithyrambisch entfesselter Angriffslust. „Der Staat spricht der Kunst und Literatur für ihre systemstabilisierende Mitarbeit an der Gesellschaft seine Anerkennung aus – das ist schon ein ziemlicher Hammer, dafür bedanke ich mich.“ So einfach macht man einen Goetz nicht zum Klassiker. Klassiker versöhnen. Er aber stellt nur eines in den Mittelpunkt seiner Rede: den Streit.

Goetz hat dabei offenkundig keine Literatur, die sich einmischt, im Sinn, die zur jeweils aktuellen Empörung den passenden Fertigtext liefert. Nein – und das ist neben seiner Erregungsform das zweite Erstaunliche an diesem Beitrag: nicht die Politik soll sich an der Literatur orientieren, sondern die Literatur umgekehrt am Streit der Politik – am besten dort, wo er stattfindet, im Parlament. Deshalb findet man diesen Autor häufig als interessierten Beobachter am Rande der Kampfzonen unserer Gesellschaft, zuletzt etwa im Gerichtssaal bei den Verhandlungen über eine der hitzigsten Streitaffären unserer Tage, der um die Führung des Suhrkamp Verlages, in dem Goetz’ Werke erscheinen.

Mit dem Wahren, Schönen, Guten hat dieser Schiller-Preisträger wenig im Sinn: Aggressivität, Bosheit, Selbstdestruktivität sind das Ferment von Büchern, deren konfliktreiche Arbeit an der Kunst höchst vermittelt zur Arbeit der Kunst an der Gesellschaft werden kann. Nur wer attackiert und kämpft, dringt in jene Räume vor, in denen die andere, die welterforschende, sanfte, erkennende Seite der Kunst Gestalt gewinnt. Insofern ist Goetz’ provokante ästhetische Erziehung zum Soziopathen und Ekel von Schiller gar nicht so weit entfernt. Vielleicht tut man gut daran, den Herleitungen des ehemaligen Lateinlehrers Kretschmann zu folgen. Das lateinische Wort provocare heißt hervorrufen. Ein Hervorrufen der Freiheit? Auch wenn er noch so kämpft, Goetz ist ein moderner Klassiker. Hammer!