Der Autor Ror Wolf ist mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet worden. Bei dem Festakt zur Verleihung des wichtigsten Literaturpreis des Landes in der Stuttgarter Musikhochschule sind alle da, nur einer fehlt: der Geehrte selbst. Trotzdem ist es eine würdige Feier geworden, dank dem Schauspieler Christian Brückner.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Alles ist möglich. Niemand kann darüber so genau berichten, wie der Autor Ror Wolf, den man am Dienstagabend in Stuttgart feiert, während in Amerika gewählt wird. Nun hat das eine mit dem anderen auf den ersten Blick nichts zu tun, allerdings sollte man es bei diesem Dichter mit dem ersten Blick nicht bewenden lassen, denn schon der zweite zeigt, was eben noch so gewöhnlich schien, im Zustand völliger Auflösung.

 

„Plötzlich begann sich die ganze Welt zu bewegen, sie begann zu dampfen und lautlos zu zittern“ – so kann man im letzten Roman des jetzt mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis, der wichtigsten literarischen Auszeichnung Baden-Württembergs, Geehrten lesen. „Vorzüge der Dunkelheit“ ist sein Titel, ein Horror-Roman, der Menschen zergliedert, den Aufstand der Worte entfacht, und in dem Amerika immer nur ein Schritt weit entfernt ist: „In der Nacht fiel Schnee und war bald danach geschmolzen. Unaufhörlich rollte die Sonne von Osten nach Westen. Ein Mann kam vorbei und hob seinen Hut. Er sei Amerikaner.“ Wenig später öffnet etwas krachend den Rachen „und dieser Rachen war groß genug, um die ganze Welt zu verschlingen“.

Auch im Konzertsaal der Musikhochschule werden in schummrigem Licht der Preisverleihung die Vorzüge der Dunkelheit gefeiert. Und ein wenig passt die Szenerie zu den surrealen Lüsten des Autors, nicht nur weil ein Gruppe junger Leute an einem gedeckten Esstisch in einer Art Wohnzimmerecke am Rand des Podiums lungert, sondern weil der, um den es eigentlich geht, gar nicht da ist. Kurzfristig musste Ror Wolf seine Teilnahme absagen, gesundheitsbedingt, vielleicht aber auch, weil dieser scheue Solitär der deutschen Literatur die großen Auftritte nicht liebt. So wird er an diesem Abend zum Gegenstand einer Beschwörung, die in mehreren Durchgängen die verschiedenen Facetten des großen Collagisten aufscheinen lässt, der sein Gebiet über alle Genregrenzen hinaus ausgedehnt hat, und die Absurdität der Welt auch mit den Mitteln der Bildenden Kunst beackert. Der Sound des von Wolf geliebten Jazz, von Studierenden der Musikhochschule magisch entfaltet, verbindet die einzelnen Stationen, wie der Klebstoff die kontrafaktischen Motive seiner Bilder, und die Syntax die ungeheuerlichen Einfälle seiner Prosa.

Flucht in die Freiheit

Der abwesende Dichter wird von dem Schauspieler, Freund und Sprecher Christian Brückner gedoubelt, der abwesende Ministerpräsident von der Kultur-Staatssekretärin Petra Olschowski. Beiden erwächst aus der Stellvertretung eine eigene Kraft der Vergegenwärtigung, niemand kann behaupten, irgendetwas hätte gefehlt. Nach einer den Ror’schen Verfahren durchaus kongenialen Collage aus feuilletonistischen Begeisterungs-Preziosen die das mittlerweile mehr als sechzig Jahre währende Schreiben des Autors begleiten, stellt Olschowski mit feiner Ironie den allfälligen Bezug des Gewürdigten zum Namensgeber des Preises her.

Als Einundzwanzigjähriger war der 1932 im thüringischen Saalfeld Geborene nach seiner Ausreise aus der DDR zunächst in Stuttgart angekommen. Und so bemüht die Engführung der gegenläufigen Freiheitswege Wolfs und Schillers zwischen Thüringen und Stuttgart erscheinen mag, so eindringlich klingt Olschowskis Appell für die Kunstfreiheit als eines für die Demokratie konstitutiven Freiraums in Zeiten, in denen in Europa und darüber hinaus allenthalben Zersetzungstendenzen zu bemerken sind. Die Kraft der Kunst liege darin, so Olschowski, dass sie Menschen und Strukturen verändern kann, wenn sie mit ihr in Berührung kommen.

Von dieser Kraft, mit der Kunst und Kultur unser Leben durchdringen, gibt ein Intermezzo mit John Cages „Living Room Music“ ein sinnfälliges Beispiel. Denn mit einem Mal erwacht jene erwähnte merkwürdige Tischgesellschaft zu einem perkussiven Leben. Ganz im Sinne des passionierten Schlagzeugers Wolf verwandeln sich Kannen, Gläser, Tassen und Plastikflaschen in Klangkörper, auf deren rhythmischem Fluss Bedeutungssplitter verführerisch tänzeln, um sich zu einem silbrig glänzenden Tagtraum zu verdichten.

In Stuttgart hat alles angefangen

Wolfs Laudatorin, die Schriftstellerin Annette Pehnt, benennt das Material, mit dem der Autor arbeitet genauer: den Wortschwall der Gesellschaft, den Müll der Redensarten, das flaue Gemurmel der Politik. Sie nimmt die Zuhörer mit auf eine Entdeckungsreise in die fremde Gegend, die sich inmitten der schillernden Alltäglichkeit öffnet, wenn Tiere von der Zimmerdecke klatschen und unter dem Teppich das Parkett fiebrige Pusteln treibt. Kenntnisreich benennt sie die Gesetzmäßigkeit dieses Werks, das einer zwingenden Logik folge, die sich gleichwohl niemandem erschließe, und sie klassifiziert die Verfahren der Reihung, die Ordnung der Fläche, die Dramaturgie der Plötzlichkeit.

Ihren Impuls, der distanzierten Analyse das Vorlesen aus diesem in seiner Form und sprachlichen Gestalt einzigartigen Werk zur Seite zu stellen, nimmt dann der Schauspieler Christian Brückner auf. Er leiht dem abwesenden Dichter seine Stimme in dessen Dankesrede, die um die Tage auf Stuttgarter Boden kreist: Wo Wolf als Mitarbeiter eines Buchclubs bemerkt, wie schwierig es ist Bücher zu verkaufen, wo er Handlanger in einer Großdruckerei im schwarzen Gestank enger Farbkästen von der Freiheit der Schriftstellerei träumt, seine ersten Texte unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer schreibt und während der Weltmeisterschaft von 1954 zum Fußballdichter reift. Ein Jahr lang dauert sein Aufenthalt, bevor er mit einem kleinen Radio, einem Regenmantel und einer Langspielplatte im Gepäck gen Frankfurt aufbrach, eine von über dreißig Stationen, die folgen sollten, bevor der Autor 2010 in Mainz sesshaft wurde. „Stuttgart war insgesamt der Anfang von etwas, was jetzt, nach ungefähr sechzig Jahren langsam zu Ende geht“, heißt es mit leiser Melancholie in der Rede, die in den Dank an den Freund Christian Brückner mündet, „dass er an meiner Stelle mit seiner unverwechselbaren Stimme diesen Text vorgetragen hat“.

Mit eben dieser Stimme und untermalt von dem Saxophon Christian Weidners belebt Brückner weitere Variationen von Lebensbeschreibungen, die sich in sanften Hinter- und Abgründen verlieren.

Wolfs Bilderwelt bestehe aus Leitmotiven immerkehrender Alpträume, hatte Annette Pehnt gesagt. Aber aus Alpträumen wache man auf. Aus Ror Wolfs Geschichten dagegen könne man nicht aufwachen. Dies teilen sie mit der Wirklichkeit. Am nächsten Tag klingelt der Wecker. Amerika hat gewählt.