Die Gemeinschaft von Schloss Tempelhof will ein besseres Leben führen. Ökologisch. Solidarisch. Und ganz ohne religiöse Dogmen. Ein genossenschaftliches Experiment, bei dem jeder mitreden darf und keiner weiß, wie lange das gutgeht.

Kreßberg - Sie seien aber keine Sekte. Das stellen sie klar, bevor man fragt. Allmählich haben sie davon sogar die Bewohner der umliegenden Dörfer überzeugt. Auch wenn hier einiges ein bisschen anders läuft: Heute sind es etwa vierzig Menschen aus der Gemeinschaft, die im Kreis stehen, sich an den Händen fassen und die Augen schließen. Durch die großen Fenster des Speisesaals fallen die ersten Sonnenstrahlen. Das Klappern von Geschirr und Besteck ebbt ab. Noch einmal ächzt die Tür, eine Frau schleicht herein, huscht zu den anderen. Dann aber: Stille. Zehn lange Minuten. Das morgendliche Besinnungsritual. Willkommen in Tempelhof, Landkreis Schwäbisch Hall.

 

Bis dato haben sich rund neunzig Erwachsene samt Kindern zusammengetan, um ein besseres Leben zu führen. Bewusst. Ökologisch. Solidarisch. Sie lehnen politische und religiöse Dogmen ab, wollen offen sein für alle Weisheitstraditionen und jeden Glauben. Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Jeder darf mitreden, alle müssen einverstanden sein. Gemüse und Getreide bauen sie selbst an, auf Feldern, die das Dorf umgeben. Die Kinder lernen in der Schule nur das, was sie wollen. Es gibt Ziegen und Hühner. Und große Bleche mit Kuchen für alle, wenn mal wieder jemand Geburtstag hat. Weil das alles zu schön klingt, um wahr zu sein, können sie sich angeblich kaum retten vor Menschen, die zu ihnen aufs Land ziehen wollen. „Ankommen“, sagen sie hier.

Es gibt es kein Eigentum von Grund und Boden

Roman Huber führt in seine Einzimmerwohnung. Aufgeräumte fünfundzwanzig Quadratmeter, nur das Nötigste. Die Gemeinschaft hat viel Raum, der Einzelne gerade genug. Auf dem weißen Teppich liegen Bücher zum Finanzsystem und dessen bevorstehenden Untergang. „Im Prinzip sind wir eine Großfamilie. Aber statt einer Blutlinie verbindet uns gemeinsamer Sinn“, sagt Huber. Weil die Tempelhofer wirtschaftlich als Genossenschaft organisiert sind, gibt es kein Eigentum von Grund und Boden. Jegliche Spekulationen mit den Immobilien sind damit ausgeschlossen. „Keinem gehört etwas, jedem gehört alles.“ Nur eine Gefahr sehe er im familiären Gemeinschaftsleben: Dass man es sich abseits der Gesellschaft zu gemütlich macht. „Ich will aktiv in die Welt hineinwirken, nicht nur die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen.“

Huber ist Bundesvorsitzender von „Mehr Demokratie e. V.“, einem Verein, der sich für stärkere Bürgerbeteiligung in der Politik einsetzt. Tempelhof passt zu seinem Beruf. „Es hat mir immer Spaß gemacht, gesellschaftliche Strukturen neu zu denken. Irgendwann wollte ich es darauf ankommen lassen, statt nur durch die rosarote Brille zu gucken.“ Ein Schlüsselmoment sei gewesen, als er einmal seine Altersvorsorge kalkulierte. Ihm sei klar geworden, dass er mit dem ungeliebten Zinseszins wirtschaften müsste, um über die Runden zu kommen. Die Lösung: Gemeinschaft. „Du stirbst, wie du alt wirst, und wirst alt, wie du lebst.“ Der Generationenvertrag in Tempelhof basiert auf Vertrauen. Einer für alle und alle für einen. Bis zum Schluss.

20 Leute, die ein Dorf kaufen wollen

Alles begann mit einer Reihe von Enttäuschungen. Zwanzig Leute aus dem Raum München, darunter Roman Huber, wollten zusammen eine kleine Gemeinschaft aufbauen. Sie suchten ein brachliegendes Grundstück in der Stadt. Dann im Umkreis von achtzig Kilometern. Acht Jahre lang. Sie fanden nichts, was geeignet und zugleich bezahlbar gewesen wäre. In der Zwischenzeit hatten sie Gemeinschaften auf der ganzen Welt besucht, immer gefragt: „Was hat bei euch funktioniert? Was nicht?“ Sie lernten den sogenannten Wir-Prozess des amerikanischen Psychologen Scott Peck kennen. Seine Methode soll helfen, eine starke und friedliche Gemeinschaft zu schaffen – ganz ohne einen Anführer. Als sie ihren Traum mangels Grundstück schon fast aufgegeben hatten, gab einer von ihnen bei Google die alles entscheidenden Worte ein: „Dorf kaufen“. Das war 2010.

Hundert Jahre lang war in Tempelhof ein Kinderheim, es folgten Werkstätten für Behinderte. Als der Haufen Sinnsucher aus dem entfernten München zur Besichtigung anrückte, standen die Häuser seit Jahren leer. Ziemlich heruntergekommen. Das sollte ihre Zukunft sein? Immerhin gab es viel Platz, eine kleine Turnhalle und eine Großküche mit einer Einrichtung aus Edelstahl. Das Dorf könnte irgendwann Heimat für dreihundert Menschen sein. Sie handelten den Besitzer von vier auf anderthalb Millionen herunter, fanden Mitbewohner und Unterstützer, die für ihren Kredit keine Zinsen verlangten. Tempelhof finanziert sich ohne Hilfe von Banken. Wer hier leben will, zahlt 30 000 Euro an die Genossenschaft und wohnt ein Jahr lang auf Probe. Den Wir-Prozess haben sie beibehalten. In der Großküche bereiten fünf hauptamtliche Köche drei Mahlzeiten täglich zu. Genug zu renovieren gibt es noch immer.

Perspektiven für problematische Jungs

„Wir haben das schönste Haus am Platz“, sagt Rüdiger Bachmann. Er betrachtet es wie ein Kunstwerk, die Holzverkleidung, die blauen Fensterrahmen. Einer seiner Schützlinge hat geholfen, es herzurichten. Die beiden Jugendlichen, die er betreut, nennt er „schwer betroffen“. Das ist ihm wichtig. Er sagt nicht: „hyperaktiv“, „lernbehindert“ oder „schwer erziehbar“. Sie leben in Bachmanns Familie. Als die vor anderthalb Jahren nach Tempelhof zog, kamen die Jugendlichen einfach mit. „Wir hätten sie auch mit in die Antarktis nehmen können, da hätte keiner was dagegen gehabt.“ Zu ihm, so Bachmann, kämen die ganz harten Fälle. Jene, an denen Familie, Jugendamt und Streetworker gescheitert seien. Bachmann lächelt düster. „Der Druck, der auf der Gesellschaft und den Jungs lastet, muss irgendwohin.“ Die einzige Zukunftsperspektive, die sie da draußen hätten, sei der Knast.

Alles, was Bachmann über Pädagogik weiß, hat er sich selbst beigebracht. Das Wissen wuchs mit den eigenen Kindern. Zuerst eröffnete er einen Waldkindergarten, dann eine freie Schule. Als sein Sohn und seine Tochter Teenager waren, nahm er sein heutiges Projekt auf. Getragen und kontrolliert wird es von „Wellenbrecher“, einem Verein für Jugendhilfe. An Tempelhof habe ihn begeistert, dass die Menschen gemeinsam etwas schaffen wollen. „Anderswo zieht man nur an einem Strang, wenn nebenan ein Atomkraftwerk gebaut werden soll“, sagt Bachmann. Für die Jugendlichen sei das Dorf heilsam. „Weil es das echte Leben ist.“ Keine therapeutischen Sondergruppen. Keine Nachhilfe. Sie können tun, was ihnen liegt. Und sei es, einfach stundenlang mit den Ziegen am Waldrand spazieren zu gehen.

Nicht alle sind krankenversichert

Tempelhof ist ein gesellschaftliches Experimentierfeld. Ein Sammelplatz von Ideen, bei denen man sich zunächst fragt: Kann das gutgehen? Einige Tempelhofer sind nicht krankenversichert. Sie sind Teil eines bundesweiten Netzwerks von Menschen, die sich im Falle eines Gebrechens privat unterstützen. Das Prinzip Vertrauen. Keine Angst. Zwölf Leute aus dem Dorf haben sich spontan zu einer Vermögensgemeinschaft zusammengetan. Den Impuls gab ein Vortrag in der Turnhalle. Von nun an liegt ihr Erspartes samt Monatslöhnen auf einem gemeinsamen Konto. Jeder nimmt sich, was er braucht. Die Schule ist auch so ein Thema. Sie ist im Erdgeschoss des blauen Hauses, in dem auch Rüdiger Bachmann mit seinen Jugendlichen wohnt. Am Gartenzaun tänzeln schräg ausgesägte, bunt bemalte Buchstaben: „Schule für freie Entfaltung Schloss Tempelhof“.

Drinnen herrscht Tumult. Zwei Jungs fetzen sich mit Kissen, begleitet von Schlachtrufen der anderen. Im Regal, neben vielen Büchern und stapelweise Gesellschaftsspielen, gluckert ein Aquarium mit Goldfischen. Einige Kinder fläzen auf einer Spielwiese, die zugleich ihr Klassenraum ist. So sieht also der typische Unterrichtstag an einer freien Schule aus.

Nein, sagt Marie Luise Stiefel und lächelt milde, das sei die Mittagspause. Die 63-Jährige ist Geschäftsführerin der Schule. Früher hat sie in leitender Position im Stuttgarter Jugendamt gearbeitet. „Dabei habe ich gemerkt, dass Kinder, die nicht systemkonform sind, aussortiert werden. Aber das System selbst muss sich infrage stellen.“ Die Welt brauche mehr kreative Köpfe, die Zusammenhänge verstehen, anstatt nur Fakten auswendig zu lernen. Deshalb hat sie sich mit ihrem planerischen Knowhow für die Schullizenz eingesetzt.

Einen staatlichen Abschluss gibt es an der Schule nicht

Vierundzwanzig Schüler im Alter zwischen fünf und siebzehn Jahren lernen hier. Wer einen staatlichen Abschluss möchte, muss zumindest die Prüfungen woanders machen. Aber mal ehrlich: Welches Kind paukt schon freiwillig Mathe? „Lesen, Schreiben, Rechnen“, sagt die Lehrerin Susanne Drothler, „das wollen eigentlich alle können.“ Doch dürfe man es nicht allen auf die gleiche Weise anerziehen. Man müsse fragen: Was braucht dieses Kind wirklich? „Es kommt vor, dass jemand erst in der dritten Klasse anfängt zu lesen, dafür aber ein ganzes Buch von vorne bis hinten.“ An der Wand hängt eine selbst gemalte Landkarte des Dorfes. Große Punkte markieren die Orte, an denen Schüler an praktischen Projekten arbeiten. Ein Junge etwa lernt, in einer Werkstatt Mopeds zu reparieren, ein Mädchen ist gerade in der Näherei. Ab nächstem Jahr ist die Schule auch für Kinder von außerhalb geöffnet.

Die endlosen Diskussionen im Plenum strengen an

Natürlich hat das Gemeinschaftsleben auch Schattenseiten. Für viele ist es wie am Anfang einer neuen Beziehung: Nachdem die erste Euphorie verflogen ist, muss man zusammen im Alltag bestehen. Die Gemeinschaft hat nie Feierabend. Viele müssen erst wieder lernen, sich nicht die ganze Zeit für alles zuständig zu fühlen. Dann die endlosen Diskussionen im Plenum. Dürfen wir Mutter Erde mit noch mehr Gebäuden versiegeln? Wollten wir nicht umweltbewusst leben und den Boden aufbereiten? Irgendwann wird jedem klar, dass das Leben in Tempelhof mindestens so anstrengend ist wie anderswo. Immerhin: es ist ihre eigene Vision, für die sie arbeiten.

Das Interesse an der Gemeinschaft ist groß, nicht zuletzt, weil Medien immer wieder darüber berichten. Die regelmäßigen Infoveranstaltungen sind ausgebucht. Am häufigsten kommen ältere Menschen zwischen fünfzig und sechzig, die eine neue Lebensaufgabe suchen. Zurzeit kann die Gemeinschaft niemanden mehr aufnehmen. Zu viele wollen ins gemachte Nest. Zu wenige wollen selbst einen kleinen Flecken dieser Welt verändern.