Der Choreograf und Regisseur Alain Platel hat sein Tanztheaterstück „C(h)œurs“ bei einem Deutschlandgastspiel gezeigt.

Richard Stuttgart - Wagner und Giuseppe Verdi hatten es nicht so mit dem Tanz: aber selbst Wagner entrichtete seine Eintrittskarte für die Pariser Oper und schrieb ein obligatorisches Ballett, damit sein „Tannhäuser“ angenommen wurde. Das Ganze wurde ein Reinfall. Nicht wegen der Ballettmusik – die kann sich hören lassen. Das Ballett kam den Habitués zu früh, statt im zweiten Akt, gleich zu Beginn. Auch Verdi gehorchte der Konvention, trotzdem funktionieren seine Melodramen meist ohne die Tanznummern (Ausnahme „Aida“). Jetzt wurden die Komponisten, die im gleichen Jahr geboren wurden, das gleiche wollten: eine Revolution in der Oper, aber sonst recht verschieden sind, zwangsverhaftet. Das drohende Doppeljubiläum, ihr zweihundertster Geburtstag im kommenden Jahr, löst erste Vorbeben aus.

 

Im März hatte in Madrid Alain Platels „Projekt“ genanntes Musiktheater „C(h)œurs“ Premiere. Man muss wissen, dass dort seit zwei Jahren Gerard Mortier das Teatro Real leitet, ein Opernmann, der irgendwie immer noch an die Postmoderne glaubt, obwohl sie längst sanft entschlafen ist. Und so hält der 68-Jährige dort nicht nur dem ewig gleichen Repertoire die Treue, also Monteverdi, Mozart, Janácek und dem mystischen Ornithologen Messiaen mit seiner monumentalen „Saint François d’Assise“-Oper, sondern auch bewährten Künstlerweggefährten. Zu denen gehört der belgische Choreograf und Regisseur Alain Platel, der in der Tradition von Pina Bausch ein totales Körpertheater aus Tanz und Schauspiel zeigt, das mit Collagetechniken und dem Spiel mit den Heterogenitäten Freunde findet.

Kinder machen sich immer gut auf der Bühne

Von Mortier angeregt, der gerne mit dem Zerbrechen integraler Werke kokettiert, das konsequent aber in der Oper nie gewagt hat, bastelte Platel aus Chören und Orchesterinterludien von Wagner und Verdi einen pausenlosen Zweistünder für zehn Tänzer der von ihm gegründeten Kompanie Les Ballets C de la B, 72 Chorsänger sowie zwei Kinder (bei Platels Mozart-Projekt „Wolf“ 2003 gab es 15 Hunde). Der Titel „C(h)œurs“ spielt mit der phonetischen Identität der Begriffe Chöre und Herzen im Französischen. Gemeint sind damit Gesellschaft und Individuum, Kollektiv und Solo, das Ganze und das Einzelne, das Politische und Private – so ließe sich das weiter aufschlüsseln und so hat der auf Improvisation bei der Entwicklung seiner Stücke setzende Platel „C(h)œurs“ offensichtlich auch entwickelt.

Auch wenn die Madrider das anders sahen: das ist weder wegen dezenter Nacktheit skandalös noch politisch unkorrekt. Im Gegenteil: der Gegenwartsbezug ist evident beispielsweise in Anspielungen auf die arabische Revolution. In einem fulminanten, vom Orchester unbegleiteten Klatsch-, Trampel-, Brüll-, Tanzintermezzo, das in einem kreiselnden Menschenschwarm mündet, aus dem heraus Hände drohend Schuhe schütteln, bekommt der Abend saftige Theatralität. Dagegen sind Volker Löschs Chöre Kindergartengesänge. Wunderbar auch das chaplineske Solo einer verrückt gewordenen Führerin zu den „Heil! König Heinrich!“-Rufen aus dem „Lohengrin“. Im Körperausdruck erkundet Platel die Extreme: die Tänzern wirken, als habe man ihnen Draht eingezogen, der in alle unmöglichen Richtungen gebogen, geknickt, gespreizt wird, dann wieder als ob den Gliedern jeder Halt fehlte, wie eine Dali’sche Uhr schlabbern leblose Körper die sechs Stufen am Ende der leicht ansteigenden, von Plastikstreifen wie vor Kühlhaustoren begrenzten Bühne herunter (Entwurf: Alain Platel), biegsam bis zum Schmerz.

Bemerkenswerte Kollektivleistung

Manches Inszenierungsdetail wirkt unbegründet, etwa die zugespielten Textfragmente von Marguerite Dukas, zwei historische Aufnahmen, ein Duett aus „La Traviata“, Wolframs Lied an den „Abendstern“ – im postmodernen Faltenwurf lässt sich eben bestens und Bedeutung vortäuschend kuscheln. Wenn aber die Anspielungen nicht schillern und das Timing gegen Ende nicht passgenau gesetzt ist, dann hilft alle Bühnenvirtuosität nicht.

In dieser Hinsicht war die Aufführung allerdings eine bemerkenswerte Kollektivleistung. Der spanische Chor sang kraftvoll, dynamisch präzise, von den deutschen Texten war allerdings kaum etwas zu verstehen und im Sopran wobbelte es gelegentlich. Marc Piollet hatte das Ganze nicht nur bestens im Griff, das Orchester aus Madrid hatte Format und Sinn für den Blechbläsertonfall bei Wagner, allein die Violinen agierten etwas hölzern. Vor allem verstand es der Dirigent, und das überraschte, Wagners und Verdis Sprache zu verschränken, als seien sie Europäer von heute. Befreundet. Den Ludwigsburgern gefiel es. Am Schluss Klatschchöre. Was sonst.