Im Herbst 1977 hat der damalige Kanzler entscheiden müssen, ob er politischen Erpressern nachgibt oder in Kauf nimmt, Menschen zu opfern. Am Freitag würdigt die Hanns-Martin Schleyer-Stiftung Helmut Schmidts Handeln im Dilemma.

Stuttgart - Helmut Schmidt ist noch kein Jahr Bundeskanzler, als er mit der Entführung eines Politikers konfrontiert wird. Ende Februar 1975 kidnappt die linksterroristische „Bewegung 2. Juni“ den Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz. Sie will fünf ihrer inhaftierten Mitglieder freipressen. Der Kanzler ist sofort dagegen, kann sich aber im Bonner Krisenstab nicht durchsetzen, denn er ist in dieser Zeit krank. Weil er am Ende aber auch keine andere Möglichkeit sieht, das Leben des Entführten zu retten, stimmt er der Freilassung zu. Aber schon wenige Wochen später wird Helmut Schmidt wieder mit der Frage konfrontiert, ob der Staat in derartigen Situationen nachgeben darf.

 

Im April besetzen Terroristen die Deutsche Botschaft in Stockholm und fordern die Freilassung ihrer Genossen. Die Bundesregierung hält das Risiko für zu hoch, 26 Terroristen freizulassen, um andererseits das Leben der gefangenen Botschaftsangehörigen zu retten. „Dann wären wir bald am Ende aller Sicherheit gewesen“, sagt Helmut Schmidt später. Aber es sei die bisher schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Darf ein Staat Menschen opfern, die er doch schützen muss?

Am 5. September 1977 entführen Mitglieder der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) in Köln den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und verlangen im Gegenzug die Freilassung der Stammheimer Häftlinge. Dieser Herbst 1977 wird für Helmut Schmidt „die schwerste Zeit, die ich als Politiker, als Bundeskanzler erlebt habe“, wird er später sagen. Weil die Verhandlungen mit den Entführern sich hinziehen, machen die Terroristen zusätzlich Druck und entführen am 13. Oktober die Lufthansa-Maschine „Landshut“ auf dem Weg von Mallorca nach Deutschland. An Bord befinden sich 82 Passagiere und fünf Besatzungsmitglieder. Im Bonner Krisenstab stellt sich die Frage: Muss die Politik angesichts der vielen möglichen Opfer nicht doch einlenken? Darf der Staat in einer Weise handeln, die ihm später als Schande angerechnet wird? Darf der Staat überhaupt Menschen „opfern“, die zu schützen seine vornehmste Pflicht ist?

Im Fall Schleyer ist es dem Kanzler besonders schwer gefallen, bei seiner harten Linie zu bleiben. Schleyer und Schmidt kennen und schätzen sich seit langem. Schmidt telefoniert mehrfach mit Schleyers Ehefrau Waltrude. Die Chancen, ihren Mann zu befreien, stehen günstig. Das Bundeskriminalamt hat einen dichten Fahndungsschleier über das Land gelegt. Schon nach zwei Tagen taucht ein Hinweis auf Schleyers Versteck im Fahndungsraster auf, aber ein Beamter legt ihn achtlos zur Seite. Das war ein verhängnisvoller Fehler. Die größte Fahndung in der Geschichte der Republik bleibt ergebnislos. Das zerrt an den Nerven. „Wir befinden uns im Bereich von Schuld und Versäumnis“, sagt Helmut Schmidt im Krisenstab, in dem auch unkonventionelle bis illegale Maßnahmen erörtert werden. Schmidt blockt ab: „Ich kann nur tun, was die Verfassung erlaubt.“

Tränen der Erleichterung nach der Rettung der Passagiere

Zur Befreiung der „Landshut“-Passagiere wird eine riskante Strategie ausgearbeitet. In der Nacht zum 14. Oktober stürmt in Mogadischu eine Sondereinheit des Bundesgrenzschutzes das Flugzeug und befreit die Geiseln. Der Kanzler spricht vom „dramatischsten Augenblick meines Lebens seit dem Krieg“. Als ihm Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski mitteilt, alle Geiseln seien am Leben, kommen ihm die Tränen. Später gesteht er ein, im Falle des Scheiterns wäre er zurückgetreten.

Die Häftlinge in Stammheim sehen nun für sich keine Chancen mehr und begehen Selbstmord. Aber das bedeutet zugleich auch das Ende von Hanns Martin Schleyer. Die RAF teilt mit, sie habe der „kläglichen und korrupten Existenz“ Schleyers ein Ende gesetzt. Im Elsass wird er tot aufgefunden. Als Helmut Schmidt bei der Trauerfeier zwischen der Witwe und dem Sohn Hanns Eberhard Schleyer sitzt, spricht er hinterher von den „schlimmsten Minuten“. Zuvor hat er vor dem Bundestag Rechenschaft abgelegt, das Dilemma zwischen Moral und Politik aufgezeigt: „Was wir getan haben, müssen wir verantworten.“