Eine Woche nach dem Kälteeinbruch wird die Lage in Europa immer dramatischer. Fast 300 Menschen sterben. Nur Italien freut sich.

Stuttgart - Teile des Kontinents versinken im Schnee, fast überall leiden die Menschen unter klirrender Kälte. Die Elbe liegt unter einem Eispanzer. Im bayerischen Oberstdorf ist mit minus 28 Grad ein neuer Kälterekord in Deutschland in diesem Winter gemessen worden. Weitaus schlimmer trifft es Osteuropa.

 

Polen, Ukraine und Russland

„Nichts rührt sich mehr!“, haucht ein Mann ins Handy und flucht. Er sollte dringend zur Wachmannsschicht in den westlichen Warschauer Vorort Pruszkow, aber seit fast einer Stunde ist keine S-Bahn mehr eingefahren. Der Lautsprecher plärrt alle paar Minuten: „Entschuldigungen für die kältebedingten Verspätungen.“

Doch den Wartenden auf dem Warschauer Ostbahnhof hilft dies wenig, zumal bei minus 20 Grad kein Warteraum zur Verfügung steht. Wegen eingefrorener Gleise und geborstener Schienen kommt es immer wieder zu Verspätungen. Verschwunden sind dafür die Obdachlosen rund um das trostlose Bahnhofsareal. Nach Aufrufen der Polizei, wild in Gartenhäuschen übernachtende Personen zu melden, wurden sie in Obdachlosenheime umgesiedelt. Dort werden seit gestern betrunkene Obdachlose nicht wie üblich abgewiesen. Denn in Polen sterben vor allem Alkoholisierte den Kältetod.

Zahlreiche Kältetote gibt es bereits

Bis zum Mittag des 5. Februars waren mindestens 54 Todesopfer der seit einer Woche anhaltenden Kälte zu beklagen. Dazu kommen fast ein Dutzend Opfer von Bränden in behelfsmäßigen Unterständen sowie Kohlenmonoxidvergiftungen. Weit schlimmer als Polen hat die Kälte jedoch die Ukraine getroffen, wo das Thermometer in vielen Gegenden auf minus 30 Grad sank. Laut der Zeitung „Ukrainskaja Prawda“ starben bisher 131 Bürger den Kältetod. Auch in der Ukraine sind die meisten Opfer unter den bis zu 300.000 Obdachlosen zu beklagen. Laut der Nachrichtenagentur Unian starben bis Samstag 78 Personen auf der Straße, 32 Menschen verloren in ausgekühlten Häusern ihr Leben. 90 Prozent der Schulen sollen wegen extremer Kälte geschlossen bleiben.

Italien

Sie balgen sich im Schnee, kichern und schnattern, bewerfen einander mit dieser seltsamen weißen Masse, die in Wolken herumstaubt, als wäre sie Puderzucker: Junge indische Nonnen genießen auf dem Petersplatz ein Spektakel, das sie noch nie erlebt haben. Ein paar Meter weiter, Richtung Obelisk, geht es härter zur Sache. Da liefert sich eine Gruppe Priester – spanisch-, portugiesisch-, englischsprachig – eine Schneeballschlacht nach allen Regeln nördlicher Kunst. Und eine Italienerin in grauen Dauerwellen, die sich als Haushälterin eines Kardinals vorstellt, aber mit dem Fanschirm des AC Mailand durch die Gegend zieht, dirigiert so aufgeregt den Bau eines Schneemanns, als wäre sie schlagartig ein halbes Jahrhundert jünger.

Rom ist am 4. Februar unter einer Schneedecke aufgewacht, wie es eine solche seit 27 Jahren nicht mehr erlebt hat. Oder seit 56 Jahren, oder seit 1939. Die Erinnerungen gehen durcheinander. So außergewöhnlich ist das Ereignis, dass alle Maßstäbe versagen. Berninis marmorne Engel auf der Brücke zur Engelsburg tragen weiße Polster auf ihren Flügeln. Die nackten Dioskuren-Statuen vor dem Kapitol kleidet ein flockiges Lätzchen sogar dort, wo man eher ein Feigenblatt vermuten würde. Oleander- und Lorbeerbüsche biegen sich unter der Last zu Boden. Die riesigen Schirmpinien erweisen sich als untauglich für ein Wetter wie dieses: Zentnerschwere Äste krachen herab – zu Lasten der Autos darunter. Und weil die Autos nicht fahren, liegt eine Stille über der Stadt wie sonst nur am heißesten Tag der Sommerferien.

Wenn der Bürgermeister keinen Wetterbericht lesen kann

Dieser Winter hat Rom kalt erwischt. Am Freitag ist er mit gewaltigen Schneefällen hereingebrochen. Mehrere 100 Kilometer Staus auf allen Straßen waren die Folge. Und während sich die Schnee-erprobten norditalienischen Städte kringeln vor Lachen über das Chaos, das die Römer daraus machen, streitet der Bürgermeister Gianni Alemanno mit dem Katastrophenschutz über die mangelnde Vorbereitung.

„15 bis 35 Millimeter Niederschläge“, so Alemanno, habe ihm der Katastrophenschutz vorhergesagt – und die bis zu 20-fache Menge sei es geworden: 30 bis 60 Zentimeter, je nach Stadtteil. „Dieser Bürgermeister ist nicht imstande, einen simplen Wetterbericht zu lesen“, blafft Franco Gabrielli als oberster Zivilschützer zurück. Meteorologen gäben Niederschlagsmengen immer in Millimetern an, und jeder wisse, dass Wassertropfen, einmal zu Schneeflocken aufgeplustert, mindestens den zehnfachen Raum beanspruchten.

Die Leute verdrießt es nicht. Im Circus Maximus fahren sie Schlitten oder ziehen mit Langlaufskiern ihre Bahnen. Die Kinder hatten schon am Freitag schulfrei, am Montag werden sie es gleich wieder haben. Der Bürgermeister hat angeordnet, dass Privatleute die Gehsteige gefälligst von Schnee und Eis zu befreien hätten. So etwas muss in Rom eigens befohlen werden, so selten sind solche Ereignisse. Und die Männer von der Stadt, die streuen in breiten Schwüngen die öffentlichen Straßen von Hand. „Wir säen, wir säen“, singt ein Arbeiter von seinem Wagen. Was soll daraus nur werden?

 

Balkan und Rumänien

Lawinen, Kältetote und Blitzeis: auch der Südosten des Kontinents stöhnt über den Winter. Nach weiteren Schneestürmen am Wochenende sind vor allem in den bergigen Regionen im Süden Serbiens, im Norden Montenegros und in Bosnien-Herzegowina mehrere Zehntausend Dorfbewohner von der Außenwelt und Stromversorgung abgeschnitten. Durch Lawinen blockierte Straßen erschweren die Rettungsarbeiten. Alle Staaten der Region beklagen eine wachsende Zahl von Kältetoten.

Folge der Kälte sind Hamsterkäufe

Allein in Rumänien erfroren in der Nacht zum Sonntag erneut sechs Menschen, die Zahl der Kältetoten ist auf 34 geklettert. Im zugefrorenen Donaudelta machten sich von der Hafenstadt Tulcea vier Eisbrecher mit Tonnen von Lebensmitteln, Medikamenten und Wasser zu den seit Tagen abgeschnitten Bewohnern auf. Nach neuen Sturmwarnungen für Südrumänien wurden aus Bukarest am Wochenende vermehrt Hamsterkäufe gemeldet.

Dramatische Szenen spielten sich auf den Überlandstraßen des bergigen Vielvölkerstaats Bosnien-Herzegowina ab. Dutzende von Kraftfahrern wurden in ihren Autos von Lawinen verschüttet, andere saßen 30 Stunden in Tunnels fest. Meterhoch lag der Schnee am Sonntag selbst in den Zentren der Großstädte. Der Notzustand wurde nach Stromausfällen und ungewohnt heftigen Schneefällen in Mostar ausgerufen. In Sarajevo war der öffentliche Nahverkehr lahmgelegt. Viele Einwohner rutschten mit Ski, Schlitten oder Snowboards durch die hügelige Stadt.

Das Scharren der Schneeschippen läutete in der serbischen Hauptstadt Belgrad den Sonntag ein. Wegen der anhaltenden Schneefälle hatte die Stadtverwaltung am Wochenende 1600 Arbeitslose für einen Tagessatz von 15,50 Euro für den Schneeräumeinsatz verpflichtet.