Die Zeiten, in denen das Schneiderhandwerk allein für die Garderobe zuständig war, sind längst vorbei. Viele Betriebe spezialisieren sich und setzen auf ausführliche Beratung und individuelles Design.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Für seinen dunkelblauen Cordanzug hat Peter Ziegler schon viele Komplimente bekommen. „Natürlich nicht nur wegen des Anzugs, sondern weil ich überhaupt gut aussehe“, sagt er und lacht. Der Stuttgarter Arzt trägt bei der Arbeit keinen feinen Zwirn. „Aber bei privaten Feiern will ich schon gescheit aussehen“, sagt Ziegler. Was den Schwaben besonders freut: „Der Anzug war günstig.“ 349 Euro hat Ziegler bezahlt.

 

Gekauft hat er ihn bei Dolzer. Das Unternehmen, das 1963 im hessischen Schneeberg gegründet wurde, ist deutschlandweit an 18 Standorten vertreten. Bei Dolzer arbeiten allerdings keine Schneider, sondern Maßkonfektionäre, die ihre Kunden über ein Standard-Größensystem vermessen. Die Kunden wählen aus vorgefertigten Modellen und 2800 Oberstoffen aus, erklärt die Marketingleiterin. Produziert wird die Kleidung im hauseigenen Werk in Tschechien. Ein Anzug aus der Maßkonfektion ist also etwas anderes als ein wirklicher Maßanzug, den ein Schneider in Dutzenden von Stunden Handarbeit anfertigt.

Maßschneider ist ein seltener Beruf geworden

Richtige Maßanfertigungen sind deshalb teuer, das leisten sich heute nur noch wenige Menschen. Aber: „Uns gibt es noch“, sagt Edith Fruhner, die Obermeisterin der Maßschneider-Innung Stuttgart. Laut einer Erhebung der Handwerkskammer Region Stuttgart bestehen rund 750 Betriebe in der Region Stuttgart. Dazu gehören jedoch auch die vielen kleinen Änderungsschneidereien. Richtige Maßschneider sind hingegen selten geworden, der Bundesverband der Maßschneider etwa hat 500 Mitglieder, Baden-Württemberg ist dort gar nicht vertreten.

Überleben können die Betriebe häufig nur, wenn sie sich spezialisieren. „Jeder braucht eine Nische. Das ist ganz wichtig“, sagt Fruhner. Das können Herrenanzüge sein, Brautkleider, Mode für Menschen, deren Maße nicht der Norm entsprechen, oder eine eigene Kollektion. „Wir sind ja eigentlich auch Designer“, betont Fruhner. Ein Maßschneider, der sein Handwerk verstehe, berate seine Kundinnen und Kunden umfassend bei der Auswahl.

Susanne Landis, die an der Löwenstraße in Degerloch eine eigene Modewerkstatt betreibt, hat ihre Nische gefunden. Zweimal im Jahr bringt sie eine eigene Kollektion auf den Markt, anfangs war sie damit auch auf der Messe Blickfang vertreten. Heute ist die Werbung dort gar nicht mehr nötig, denn die 55-Jährige hat einen festen Kundenstamm und kann über mangelnde Aufträge meistens nicht klagen.

Handgenähtes hat seinen Preis

Landis hat ihr Handwerk von der Pike auf gelernt. Nach der Schneiderlehre in ihrer Heimat am Bodensee arbeitete sie fünf Jahre als Gesellin, bevor sie nach Stuttgart auf die Meisterschule ging. Seit zehn Jahren ist sie mit ihrer Modewerkstatt selbstständig. Zu ihr komme, wer Individualität und passgenaue Anfertigung schätze, sagt sie. Für ein schlichtes Kleid bezahlen ihre Kundinnen um die 250 Euro, für einen gefütterten Mantel etwa 650 Euro, für ein Brautkleid ab 850 Euro aufwärts. Je nachdem, wie lange Landis dafür braucht. Meistens sind es zwischen zehn und 25 Stunden. Dafür ist in der Modewerkstatt Degerloch alles noch handvermessen und -genäht, von der ersten Anprobe bis zum letzten Stich macht Landis alles selbst. „Viele schätzen es, dass sie wissen, woher ihre Kleidung wirklich kommt“, sagt sie.

Kunden gönnen sich ein Lieblingsstück

Für ihre Brautkleider ist die Modedesignerin schon so bekannt, dass manche Kundinnen auch 100 Kilometer weit anreisen, um sich von ihr ein individuelles Kleidungsstück anfertigen zu lassen. Laut einer Umfrage des Online-Händlers Zalando sind sieben Prozent der Hochzeitskleider Maßanfertigungen. Aber: „Junge Menschen leisten sich eher selten einen Maßschneider“, sagt Landis. Selten kleiden sich ihre Kunden auch komplett bei ihr ein, eher gönnen sie sich mal ein Lieblingsstück. Das war früher anders. „Ich hatte viele Kunden, die sich vom Unterrock über Hemd, Hose und Mantel ihre ganze Garderobe von mir schneidern ließen“, sagt die Innungsobermeisterin Edith Fruhner.

Der Nachwuchs absolviert lieber gleich ein Studium

Der Nachwuchs absolviert deshalb kaum noch die klassische Schneiderlehre. Viele studieren direkt Modedesign, um beruflich breiter aufgestellt zu sein. Die 20-jährige Jessica Tribusser, die derzeit ein Praktikum in der Modewerkstatt Landis macht, fängt im September ihr Studium in Pforzheim an, davor absolvierte sie eine kaufmännische Ausbildung. „Mir wurde gesagt, dass es bei vielen Designern gerade an unternehmerischen Kenntnissen fehlt“, sagt Jessica Tribusser.

Hilde Hoffmann ist seit rund zehn Jahren selbstständig und im Vorstand der Stuttgarter Innung akt. Sie überlegt gerade, sich noch stärker auf einen Bereich zu spezialisieren, damit ihr Betrieb überlebt. Bisher konzentriert sich die Schneidermeisterin in ihrem Atelier an der Esslinger Straße auf festliche Garderobe für die Dame. Ihre Kundinnen haben meist eine ungefähre Vorstellung, was sie möchten. Ganz klassisch erstelle sie dann eine Zeichnung von Hand, erzählt sie. Dann macht Hoffmann den Schnitt für das Modell. „Das ist noch echte Kunst“, sagt sie.

Lange war die 60-Jährige am Staatstheater tätig. Sie hat deshalb schon viele außergewöhnliche Stücke angefertigt. So wünschte sich ein Mann ein Kleid für einen historischen Stadtrundgang, andere ordern richtig Skurriles: Kurz vor Weihnachten bestellte ein Kunde bei Hoffmann einen Bademantel für die Freundin – im Drachenlook mit Mütze und Schwanz. „Alles ist machbar“, sagt sie und lacht. „Deswegen liebe ich meine Arbeit.“