Die zweite Beobachtung schockierte mich noch mehr. Einige der Jugendliche waren auf Bäume geklettert, klammerten sich vier oder fünf Meter über dem Erdboden an Äste und Stämme – und die Wasserwerfer schossen auf sie. Noch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich, wie der mächtige Wasserstrahl von dem Stamm abprallt, ich sehe einen Jugendlichen direkt darüber, und ich höre seine Angstschreie. Ich bin kein Jurist, sicher nicht, aber bitte, was soll das anderes sein als versuchter Totschlag?

Barbara Tuchman stellt in ihrem eingangs erwähnten Buch die Frage, wie es sein kann, dass die Menschheit in der Regierungskunst weit hinter dem zurückbleibt, was sie auf anderen Gebieten zuwege bringt. Warum zogen die Trojaner dieses merkwürdige hölzerne Pferd in ihre Stadt, obwohl einige von ihnen die Kriegslist der Griechen durchschauten? Warum stoppten die Päpste nicht die bereits sechs Jahrzehnte andauernde Korruption, Amoral und Niederschlagung aller Proteste, als bereits große Teile ihrer Anhänger genug davon hatten und sich zum Protestantismus abspalteten? Und ebenso rätselhaft ist, was die Regierung Mappus zu ihrer Ramboaktion veranlasst hat. Damit läutete sie ihren Niedergang selbst ein.

 

Ich habe meine Beobachtungen vom 30. September Jakob und Georg Dengler in einem Roman erleben lassen, schilderte sie vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags und gab sie auch einem hiesigen Staatsanwalt zu Protokoll.

Geschehen ist - nichts

Geschehen ist – nichts. Vor dem Untersuchungsausschuss musste ich mir von einem schmallippigen Abgeordneten sagen lassen, bei meinen Beobachtungen sei wohl die Fantasie des Schriftstellers mit mir durchgegangen. Ich zog daraus den Schluss, dass es diesem Ausschuss nicht um die Aufklärung von Tatsachen ging.

Bei der Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft wollte man mir dann tatsächlich weismachen, die Wasserwerferkaskaden auf die Jugendlichen, die auf den Bäumen saßen, hätten nie stattgefunden. Meine Wahrnehmung sei eine optische Täuschung gewesen. Niemand außer mir habe dies beobachtet. Aber um mich herum standen Hunderte und neben mir der Theaterregisseur Volker Lösch. Als Lösch befragt wurde, sagte man ihm, niemand außer ihm habe ausgesagt, dass auf die Kids mit den Wasserwerfern geschossen worden sei – dies einige Wochen nach meiner Aussage.

Seite 2: Wasserwerfer schossen Freiburg nach links

Es war aber auch die Zeit, in der die Rolling Stones sangen, dass die Zeit reif sei, auf den Straßen zu kämpfen, und die Chambers Brothers ihren großen Hit mit „The Time has come today“ landeten, und Jimi Hendrix jeden von uns fragte: „But first, are you experienced?“ – hast du schon gelebt?

Da tauchten wie aus dem Nichts am 13. Februar 1968 Flugblätter in meiner Berufsschule auf: „Alle um 13 Uhr zum Bertholdbrunnen. Wir sind nicht machtlos.“ Tagelang hielt sich unser Protest. Manchmal war es fast ein Happening. Die Freiburger Polizisten erhielten Blumen von jungen Mädchen, die zunächst furchterregenden Polizeihunde fütterten wir mit Wurstresten von den Bratwürsten, die wir auf dem Münsterplatz kauften. Die Hunde wurden dann recht zutraulich.

Polizeidirektor Mayer erschien in voller Uniform auf einer studentischen Versammlung und versprach, dass die Polizei unter seinem Kommando keinen Schlagstock einsetzen würde, wenn die Demonstranten friedlich blieben. Er wurde von den Studenten mit großem Applaus verabschiedet. Am nächsten Tag wurde er abgelöst. Die Staatsmacht hatte entschieden, Ruhe und Ordnung mit allen Mitteln wieder herzustellen. Freiburg sollte das ordentliche und verschlafene Nest bleiben, das es bis dahin war. Man dürfe dem Druck der Straße nicht nachgeben.

Wasserwerfer und zwei Hundertschaften der Bereitschaftspolizei aus Göppingen zogen plötzlich auf. Sie prügelten sich durch die Stadt, die Wasserwerfer schossen auf alles, was sich bewegte, Schaufenster zerbrachen, und nach ein paar Tagen beschloss der Stadtrat, die Fahrpreiserhöhungen sollten durchgesetzt werden, von einigen kosmetischen Änderungen abgesehen. Recht und Ordnung hatten gewonnen.

Mit der Ruhe war es ein für alle Mal vorbei

Der brave Stadtrat im Verbund mit einer reaktionären Landesregierung erreichte sein Minimalziel, aber seit den Fahrpreisdemonstrationen war die Ruhe in der Stadt ein für alle Mal vorbei. Die Schlagstöcke der Bereitschaftspolizei öffneten die Köpfe von Tausenden für die marxistische Gesellschaftskritik (samt den dogmatischen Verwerfungen der siebziger Jahre). Die Wasserwerfer schossen die Stadtgesellschaft weit nach links. Ich wollte nicht mehr kaufmännischer Angestellter werden.

Bei diesem Rückblick stelle ich mir die Frage: Wie wird sich der Einsatz im Schlossgarten auf die Stuttgarter Verhältnisse auswirken? Welche Verschiebung der politischen Tektonik hat er bewirkt?

Bewusstwerdungsprozesse brauchen Zeit, und vielleicht sind zwei Jahre eine noch zu kurze Spanne für eine Bilanz. Doch zwei Beobachtungen von diesem Tag werde ich wohl nie mehr vergessen. Am Anfang lief der Einsatz völlig chaotisch, Polizeiketten zogen auf, wurden wieder abgezogen, der Kommandant schien überfordert.

Da fiel mir ein Trupp von vier oder fünf jungen Männern in Zivil auf, als Polizisten nur an einer gelben Plastikweste zu erkennen, auf deren Rückseite „Polizei“ stand. Sie marschierten durch die Reihen der Kids und stießen sie aus dem Weg, schubsten die Jugendlichen ohne erkennbaren Grund; kurzum: sie verhielten sich wie die Leute, die Streit provozierten. Einer von ihnen filmte das Ganze mit einer aufgepflanzten Videokamera. Dann marschierten sie zu einem der großen Bäume, und die Jugendlichen umringten sie und wollten wissen, ob diesem Baum etwas geschehe. Da schlug der Anführer des Trupps, ein Polizist, der sich mit einem wildwestartigen Umhang kostümiert hatte, ohne Grund einem der Kids ansatzlos und mit voller Wucht ins Gesicht. Der Junge ging zu Boden; ich fotografierte den Schläger mit der Handykamera.

Seite 3: Wasserwerfer schossen auf Jugendliche

Die zweite Beobachtung schockierte mich noch mehr. Einige der Jugendliche waren auf Bäume geklettert, klammerten sich vier oder fünf Meter über dem Erdboden an Äste und Stämme – und die Wasserwerfer schossen auf sie. Noch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich, wie der mächtige Wasserstrahl von dem Stamm abprallt, ich sehe einen Jugendlichen direkt darüber, und ich höre seine Angstschreie. Ich bin kein Jurist, sicher nicht, aber bitte, was soll das anderes sein als versuchter Totschlag?

Barbara Tuchman stellt in ihrem eingangs erwähnten Buch die Frage, wie es sein kann, dass die Menschheit in der Regierungskunst weit hinter dem zurückbleibt, was sie auf anderen Gebieten zuwege bringt. Warum zogen die Trojaner dieses merkwürdige hölzerne Pferd in ihre Stadt, obwohl einige von ihnen die Kriegslist der Griechen durchschauten? Warum stoppten die Päpste nicht die bereits sechs Jahrzehnte andauernde Korruption, Amoral und Niederschlagung aller Proteste, als bereits große Teile ihrer Anhänger genug davon hatten und sich zum Protestantismus abspalteten? Und ebenso rätselhaft ist, was die Regierung Mappus zu ihrer Ramboaktion veranlasst hat. Damit läutete sie ihren Niedergang selbst ein.

Ich habe meine Beobachtungen vom 30. September Jakob und Georg Dengler in einem Roman erleben lassen, schilderte sie vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags und gab sie auch einem hiesigen Staatsanwalt zu Protokoll.

Geschehen ist - nichts

Geschehen ist – nichts. Vor dem Untersuchungsausschuss musste ich mir von einem schmallippigen Abgeordneten sagen lassen, bei meinen Beobachtungen sei wohl die Fantasie des Schriftstellers mit mir durchgegangen. Ich zog daraus den Schluss, dass es diesem Ausschuss nicht um die Aufklärung von Tatsachen ging.

Bei der Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft wollte man mir dann tatsächlich weismachen, die Wasserwerferkaskaden auf die Jugendlichen, die auf den Bäumen saßen, hätten nie stattgefunden. Meine Wahrnehmung sei eine optische Täuschung gewesen. Niemand außer mir habe dies beobachtet. Aber um mich herum standen Hunderte und neben mir der Theaterregisseur Volker Lösch. Als Lösch befragt wurde, sagte man ihm, niemand außer ihm habe ausgesagt, dass auf die Kids mit den Wasserwerfern geschossen worden sei – dies einige Wochen nach meiner Aussage.

Da ich gleichzeitig weiß, mit welcher Inbrunst die gleiche Behörde die Gegner des Bahnhofprojektes verfolgt hat, habe ich daraus den Schluss gezogen, dass der Rechtsbefolgungswille bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft nur schwach entwickelt ist. In dieses Bild passt, dass diese Behörde auch in anderen Fällen – so beim EnBW-Skandal – gegen Mächtige erst dann ermittelt, wenn diese nicht mehr im Amt sind. Dass heute, zwei Jahre nach dem 30. September 2010, selbst offenkundige Delikte nicht abschließend ermittelt sind, zeigt, dass eine wesentliche Institution in der Stadt nicht oder nicht gut funktioniert.

Die Historikerin Barbara Tuchman sieht in der Ablehnung der Vernunft und der Weigerung, die Urteilskraft auf Grundlage von Erfahrung, gesundem Menschenverstand und verfügbarer Information zu gebrauchen, die Gründe für die Torheit der Regierenden. Tuchman hat den Epilog ihrer Studie „Eine Laterne am Heck“ genannt. Sie zitiert damit den englischen Dichter Samuel Coleridge: „Aber Leidenschaft und Parteigeist machen unsere Augen blind, und das Licht, das die Erfahrung spendet, ist eine Laterne am Heck, die nur die Wellen hinter uns erleuchtet.“

Trefflicher kann man die Stuttgarter Situation zwei Jahre nach dem verwerflichen Polizeieinsatz nicht beschreiben.

Seite 4: Der Autor im Porträt

Wolfgang Schorlau kam vor 61 Jahren am südlichen Rand des Hunsrücks, in Idar-Oberstein, zur Welt. 1966 begann er eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann in  Freiburg. Dort schloss er sich über eine Lehrlingsgruppe der Studentenbewegung an. Später machte er – ganz bürgerlich – Karriere: Schorlau arbeitete sich bis ins Management einer Computerfirma hoch, wohnte unter anderem in Köln und Koblenz. Seit dem Jahr 2000 lebt Wolfgang Schorlau als freier Autor in Stuttgart.

Mit seiner Romanreihe um den Privatermittler Dengler ist er bundesweit erfolgreich – 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Schorlau erlebte den Polizeieinsatz am 30. September 2010 im Schlossgarten hautnah mit. Kurz darauf gab er das Buch „Stuttgart 21. Die Argumente“ heraus.