Der Schriftsteller Matthias Politycki liebt das ­Reisen und das Schreiben. Für ihn ist Zuhausebleiben auch in Zeiten weltweiter Terrorgefahr keine Alternative.

Stuttgart -

 
Herr Politycki, wohin sind Sie zuletzt gereist?
Für mein neues Buch war ich in Indien unterwegs, weil ich das Reisen noch mal in seiner gesamten Bandbreite erleben wollte: Wie fühle ich mich, wenn ich ankomme, was macht das Hochgebirge mit mir, wie geht es mir in den Slums?
Haben Sie da auch den Zustand des „kleinen Zen“ erlebt, von dem Sie sagen, das ist einer der seligen Momente beim Reisen?
Ja, ich hatte Glück. Solch stille, zeitentrückte Momente kann man ja nicht erzwingen. Ich erlebe sie am ehesten, wenn ich mich tüchtig verausgabt habe. Etwas in mir schaltet dann um in einen trancehaften Modus. Dann schaue ich zum Beispiel in eine Landschaft hinein, die gar nicht mal besonders schön ist, und irgendwann schaue ich durch sie hindurch. Danach bin ich erfrischt.
Eine der eindrücklichsten Erfahrungen auf Reisen, die Sie in Ihrem neuen Buch beschreiben, ist die Wucht des Schönen. Wann waren Sie zuletzt davon überwältigt?
Bei ebenjener Indien-Reise, nämlich in Agra: Das Tadsch Mahal hat mich schon als Kind fasziniert, ich hatte ein Puzzle davon. Freilich wird es jeden Tag im Schnitt von 35 000 Menschen besucht, an Spitzentagen von 80 000, da ist von der Aura des Ortes nur noch wenig zu spüren. Nun habe ich ohnehin ein Faible für die Rückseiten von Sehenswürdigkeiten und Städten. Ich fuhr also zum Müllberg von Agra, stieg zusammen mit einigen Männern hoch, die dort arbeiteten. Von oben sahen wir überm Dunst des Flusses die Kuppeln des Tadsch Mahal. Wir schwiegen eine Weile, aus völlig anderen Kulturen und Gesellschaftsschichten kommend, verbunden in diesem Anblick.

Sehenswürdigkeiten sind oft eine Enttäuschung

Sie haben aber auch die Erfahrung gemacht, dass Sehenswürdigkeiten oft eine Enttäuschung sind. Warum?
Weil unsere Erwartungen meist zu hoch sind. Wir leben in einer Überinformationsgesellschaft; wenn wir uns über unser Reiseland zu sehr informiert haben, dafür reichen ja einige Mausklicks, dann kriegen wir all die perfekten Bilder gar nicht mehr aus dem Kopf, wenn wir vor den Sehenswürdigkeiten stehen.
Sollte man Sehenswürdigkeiten suchen, die nicht zu den Top Ten zählen?
Gesehen haben sollte man die Hauptsehenswürdigkeiten schon, denn das sind sie ja nicht umsonst. Spannend wird es aber erst, wenn man die Touristenströme verlässt. All das, was dann am Wegrand auftaucht, kann man als eigene Entdeckung feiern – einen kleinen Tempel, einen heiligen Baum, was auch immer. Aber man sollte auch wirklich beherzt drauflosgehen! Und nicht nur dem Handydisplay hinterherlaufen, auf Routen, die Google Maps vorgibt. Solange man sich von Tripadvisor das beste Restaurant empfehlen lässt und dabei mit den Freunden zu Hause chattet, lebt man immer noch seinen heimischen Alltag und kommt in der Fremde nicht an.
Auf der Rangliste mit Top-Sehenswürdigkeiten rangiert bei Ihnen u. a. der Chreschtschatyk-Boulevard in Kiew am Sonntag. Was haben Sie da erlebt?
Er wurde damals jeden Sonntag für den Verkehr gesperrt – eine vielspurige Straße wurde plötzlich zur Flaniermeile, die mit jedem spanischen Corso mithalten konnte. Tausende waren unterwegs, und jeder hatte sich dafür schick gemacht. Der Boulevard war keine Sehenswürdigkeit im klassischen Sinne, aber er offenbarte den Alltag in Kiew, genau genommen das Straßenfest, auf das dieser Alltag im Wochenrhythmus hinauslief.

Je mehr wir von der Fremde erwarten, umso öfter werden wir enttäuscht

Sie haben etwas gemacht, was wir auf Reisen auch immer tun, nämlich zu vergleichen. Warum suchen wir im Fremden immer das Bekannte?
In jedem Vergleich schwingen der Wunsch nach Orientierung und, im Verborgenen, der Wunsch nach Sicherheit mit. Eigentlich brechen wir auf, um Abenteuer zu erleben und uns dabei neu zu erfahren. Trotzdem legen wir überall erst mal unsere eigenen Koordinaten an, um uns das Fremde vertrauter zu machen. Noch vor ein paar Jahrhunderten war das überlebenswichtig.
Aber ist das nicht auch eine Abwertung dessen, was man gerade sieht?
Der erste Kuss der Fremde wird in der Erinnerung stets der aufregendste bleiben. Doch die wirkliche Versuchung des Weitgereisten ist nicht das Vergleichen, sondern die Gleichgültigkeit. Ich war ein halbes Jahr auf der „MS Europa“ unterwegs; einige der Weltreisenden gingen gar nicht mehr von Bord, weil sie sich sagten: Ach, Singapur, da war ich schon dreimal, was sollte es dort noch zu entdecken geben?
Wie können wir uns das Erlebnis des Überwältigtseins erhalten?
Indem wir es auf immer neue Art suchen, an neuen Zielen, unter neuen Bedingungen, vielleicht auch mit anderen Reisegefährten. In Fernost erlebt man eben etwas völlig anderes als in Schwarzafrika, bei einem Tauchurlaub wird man von anderen Dingen überwältigt sein als beim Trekken. Zum Zweiten ist es auch Einstellungssache: Je mehr wir von der Fremde erwarten, desto öfter werden wir enttäuscht. Aber die Fremde ist eben genauso ambivalent, langweilig und bisweilen nervig wie die Heimat. Wenn wir der Fremde und den Fremden auch alle negativen Aspekte zugestehen und nicht beständig damit hadern, sind wir bereit für ganz andere Glücksmomente, als wir sie zu Hause erfahren.

Zuhausebleiben ist auch keine Alternative

Durch den Terror hat das Reisen, so Ihre These, seine Unschuld verloren. Aber war das Reisen nicht schon immer ein gefährliches Unterfangen?
In früheren Jahrhunderten allemal! Aber das hatten wir vergessen, als wir in den 1960er oder 70erJahren aufbrachen, die Welt zu entdecken. Wir glaubten, dass wir durch unsere Reisen zum Austausch der Kulturen beitrugen und damit zu einer besseren Welt. Nach 9/11 kam es allerdings zu einer zunehmenden Konfrontation der Kulturen, wurden sogar Touristen und Sehenswürdigkeiten Opfer des Terrors. Seitdem habe ich keine Reise mehr angetreten, ohne zuvor die Sicherheitswarnungen des Auswärtigen Amtes zu studieren. Seit einigen Jahren reicht mir auch das nicht mehr, weil sich Kleinkriege entwickelt haben In Usbekistan zum Beispiel, das von der Tourismusindustrie als friedliches Urlaubsland vermarktet wird, rücken im Gebirge die Taliban vor. Weiß man das, ist die Unbeschwertheit weg.
Aber zu Hause bleiben ist schließlich auch keine wirklich gute Lösung, oder?
Nein, denn je mehr wir reisen, desto realistischer wird unsere Einschätzung der Welt – Reisen ist praktische Philosophie. Ein Reisender beurteilt die Welt aufgrund seiner Erfahrungen, nicht aus einer Überzeugung heraus. Er ist gefeit gegen eine Verklärung der Fremde, hat aber auch keine Angst vor ihr. Er beschönigt nichts, aber er verunglimpft auch nichts an ihr. Im Grunde ist der Reisende für das öffentliche Gespräch unserer Gesellschaft wichtiger denn je! Und auch im Ausland kann er Haltung zeigen, diejenige des Europäers nämlich, der selbst in Konfliktsituationen zu seinen Werten steht. Oft muss man sich dann richtig anlegen mit den Einheimischen, gerade wenn es um religiöse (In-)Toleranz geht oder Zudringlichkeit gegenüber der Frau, mit der man reist. Aber nur so verschaffen wir den Werten der westlichen Welt Respekt. Das können wir nicht den Politikern überlassen.
Zur Person: Matthias Politycki, Jahrgang 1955, ist Schriftsteller und schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte. Sein neues Buch heißt „Schrecklich schön und weit und wild – Warum wir reisen und was wir dabei denken“, Hoffmann und Campe, 351 Seiten, 22 Euro.