Nächste Woche beginnt in Leipzig die Buchmesse. Viele neue Autoren stehen plötzlich im Rampenlicht. Im vergangenen März traf es Per Leo, dessen Debüt „Flut und Boden“ sogleich für den Buchpreis nominiert wurde. Was ist aus seinem Erfolg geworden?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Berlin - Wie war das vor einem Jahr? „Es war wie ein Naturereignis, ein Gewitter.“ Wenige Tage vor Beginn der Leipziger Buchmesse 2015 erinnert sich der Berliner Schriftsteller Per Leo an die Tage vor Beginn der Leipziger Buchmesse 2014. „Sie müssen bedenken, ich war und bin ja Historiker. Ich habe jahrelang allein in meiner Butze gearbeitet, der typische Geisteswissenschaftler eben, sechs Tage pro Woche, immer für mich. Und plötzlich war diese Bude voll mit Journalisten und Fernsehteams. Dabei hatte ich doch einfach nur ein Buch geschrieben.“

 

Wobei, nicht allen, die einfach nur ein Buch schreiben, geht es so. Aber Per Leos Roman „Flut und Boden“, veröffentlicht im Stuttgarter Verlag Klett Cotta, traf vor Jahresfrist offenbar ins Schwarze. Eine Fachjury nominierte ihn für einen der drei Preise der Leipziger Buchmesse. Da stand der damals 42-jährige Debütant plötzlich in einem erlesenen Kreis zwischen schon länger, um nicht zu sagen: längst Arrivierten wie Martin Mosebach, Diedrich Diederichsen oder Roger Willemsen. Auf der Jagd nach frischen Stars schlug der Literaturhype-Betrieb prompt über ihm zusammen. „Aber verstehen Sie das nicht als Beschwerde“, beeilt sich Leo zu versichern. „Die Nominierung war ein Türöffner, ein Riesenglück. Ich hab’s nicht darauf angelegt. Aber auch dadurch bin ich heute ein Schriftsteller.“

Eigentlich wollte Per Leo nach seiner Promotion 2013 ein Sachbuch schreiben – ausgehend vom eigenen Familienarchiv über zwei Vorfahren, den Großvater und dessen Bruder. Sie stammten aus dem Bremer Großbürgertum, ihre Vorfahren hatten einst eine der wichtigsten deutschen Schiffswerften gegründet, die Lange Werft, später Bremer Vulkan. Im Kaiserreich war die Sippe protestantisch, standes-, werte-, bildungsbewusst und, natürlich, streng konservativ. So auch Friedrich und sein Bruder Martin, in mancher Hinsicht einander ähnlich, in anderer grundverschieden. Aus dem einen wird ein schlimmer Nazi, ein Schreibtischtäter im Rasseamt der SS. Der andere wird Anthroposoph und beobachtet die Sterne. Der eine zieht sich nach der Niederlage trotzig von der Welt zurück. Der andere führt in der DDR eine goetheanische Nischenexistenz.

Kein schlechter Stoff für ein Sachbuch

Zwei Biografien pars pro toto für das schuldig gewordene deutsche Bürgertum – kein schlechter Stoff für ein Sachbuch. Es ist die Lektorin vom Stuttgarter Verlag, die beim Historiker anfragt, ob dies nicht auch der Stoff für einen Roman sein könnte. „Eigentlich bin ich als Schriftsteller von Klett Cotta gecastet worden“, meint Leo. Und diese letztlich gemeinsame Wette auf eine Dichterzukunft geht auf.

Die Besonderheit von „Flut und Boden – Roman einer Familie“, eben der ganz eigene Ton, das durchaus kokette Anspielen auf alte Thomas-Mann-Seligkeiten bei gleichzeitig permanenter, ab und an auch penetranter Tonfall-Störung nach dem Motto „schönes Erzählen gibt’s hier nicht“ – dieser ambitionierte und dennoch frappierend frische Ansatz erreicht die Fachleute und Multiplikatoren sofort. Klett Cotta erweist sich erneut als Trend- und Talentscout. Die Rezension des Debüts gerät in vielen Redaktionen zur Chefsache. Auch in der StZ übernimmt der Literaturredakteur Stefan Kister die Sache: „Dieses Buch erzählt die Entwicklung zum Unmenschen als Bildungsroman.“ Und: „Klarer wurde der Weg, der von Weimar nach Buchenwald führt, selten beschrieben.“

Zum Preis der Buchmesse hat es dann zwar nicht gereicht – Sasa Stanisic bekam ihn schließlich für eine Provinz-Expedition ganz anderer Art, „Vor dem Fest“. Aber der literarische Anschub war geschafft, der Per-Leo-Dichterwagen rollte. „Drei Lesungen pro Woche überall in Deutschland, Interviews und Porträts. Man hielt mich plötzlich für podiumstauglich. Der Schriftstellerberuf ist in seiner ganzen auratischen Aufladung über mich gekommen.“ Unter dem Vorwand, seinen Schreibtisch sehen zu wollen, macht sich die Reporterin eines großen Magazins in Leos Berliner Wohnung breit. „Ich bemerkte viel zu spät, dass diese Art von Journalismus von der Distanzlosigkeit lebt. Das zeigten auch die Fragen, die sie mir stellte.“ Im Jahr danach hat Leo Lehren daraus gezogen: Journalisten empfängt er nicht mehr daheim, sondern im Café Einstein Unter den Linden. Täuscht man sich, oder ziehen die Kellner tatsächlich ihm zuliebe das Reservierungsschild vom Tisch? Jedenfalls: „Ich kann die Himbeer-Tarte empfehlen.“

Verwirrende Kürzel

Lernt man auf den Lese-Tourneen durch Deutschlands Städte und Provinzen etwas? „Ich habe aus vielen Fragen gelernt.“ Beispiel? In „Flut und Boden“ verschlüsselt Leo die Namen der Nazikinder durch Geschlechtskürzel und Geburtsjahr, sein Vater etwa heißt „M42“. „Dabei hatte ich mir natürlich was gedacht. Von den Lesern habe ich gelernt, dass es nicht funktioniert hat, verwirrend ist. Das würde ich heute anders machen.“

Die komplizierteste Lesung war aber zweifellos im Frühjahr 2014 bei „Otto und Sohn“ in der Breiten Straße in Bremen-Vegesack – eben dort, wo Leos Blut-und-Boden-Familiengeschichte spielt. Der „Weser-Kurier“, die Bremer Tageszeitung, hatte Leos Werk als Fortsetzungsroman gebracht. In der Vorstadt schlugen die Wogen prompt hoch – gar nicht so sehr wegen der Enthüllung mancher Naziverstrickung. Eher stieß der herablassende Tonfall auf, mit dem sich der junge Leo dem Lebensort seiner Vorfahren genähert hatte. Nur noch „gespenstische Leere“ erkennt er dort. Alles Wertvolle sei demontiert – die Bremer Vulkan ging 1997 in Konkurs –, alles nur noch Vergangenheit: „Wer nicht weggezogen ist, altert in der Fußgängerzone vor einem riesigen Eisbecher.“

Nun, immerhin 80 Vegesacker kamen nach Genuss ihrer Eisbecher zur Leo-Lesung, bei „Otto und Sohn“ hing ein „Ausverkauft“-Schild an der Tür. Gab es drinnen Verletzte? „Darauf war ich gefasst. Das muss man als Autor aushalten können, man hat es so und nicht anders geschrieben. Aber die Leute haben mir ruhig und interessiert zugehört. Und ich habe auch etwas gelernt. Ich denke mit Respekt daran.“

Die Fachkollegen sind interessiert

Vorfrühling 2015 – die Lesetour ist ausgeklungen. Es gibt längst ein neues Frühjahrsprogramm, neue Debütanten, die nächste Buchmesse steht an. „Jetzt kommen andere Einladungen. Jetzt wird es ganz anders spannend.“ Gerade am Vorabend ist Per Leo bei den Historikern der Humboldt-Universität zu Gast gewesen. „Kann man als Wissenschaftler auch auf eine seriöse Art zum Erzähler werden?“ Sein Bucherfolg interessiere die Fachkollegen. „Wo genau steckt in einem Roman etwas, das auch für Forschung relevant sein könnte?“ Die Fachdebatte hat ihn zurück.

Wird es also womöglich beim literarischen Debüt als Einzelfall bleiben? „Nein. Wie gesagt, ich bin jetzt ein richtiger Schriftsteller.“ Acht Jahre hat sich der Autorenkollege Sasa Stanisic Zeit gegeben, um nach seinem Debütroman im Jahr 2006 den Buchpreis-Gewinner „Vor dem Fest“ 2014 zu schreiben. „Für das nächste Buch haben der Verlag und ich und auf etwa vier Jahre Arbeitszeit verständigt.“ Man weiß in Stuttgart eben noch, wie man mit Talenten umzugehen hat. Im Jahr nach Per Leos Debüt beginnt die Suche nach dem nächsten Schritt. „Früher Abend, Winter“, so beginnt „Flut und Boden“. Der Autor ist inzwischen weiter. Irgendwann wird er nach dem nächsten ersten Satz suchen.