Die kleine Welt 30 Kilometer westlich von Thessaloniki hat sich verändert. Es geht besser als anderswo, dennoch macht sich in Nea Malgara angesichts der Euro-Schuldenkrise langsam aber sicher Hoffnungslosigkeit breit.

Nea Malgara - In der Dämmerung kommen die Moskitos. In Schwärmen fallen sie über die Menschen von Nea Malgara her, wenn es dunkel wird. Es juckt wie verrückt. Anti-Mücken-Sprays haben ihre Wirkung längst verloren. Es bleibt nur die Flucht in die Häuser oder aus dem Dorf Richtung Meer. Es ist der Preis, den die 3700 Einwohner für ihren relativen Wohlstand zahlen müssen.

 

Die riesigen Reisfelder, die sich entlang der Autobahn zwischen Thessaloniki und Athen erstrecken und den Stechmücken eine Heimat bieten, sichern der kleinen Gemeinde seit Jahren ein Auskommen. Mit den Flächenprämien, die Europas Bauern aus Brüssel überwiesen werden, lässt sich anständig über die Runden kommen.

„Uns geht’s noch relativ gut“, sagt die 39-jährige Litsa Protopsaltis, die in der Gemeindeverwaltung arbeitet, „sieht man aber, wie schlecht es uns schon geht, kann man sich vorstellen, wie sehr andere unter der Krise leiden.“ Sie hat auch in dem kleinen griechischen Dorf Nea Malgara das Leben der Menschen auf den Kopf gestellt.

Die Ladenzeile in der Hauptstraße steht ganz leer. Bis vor einem Jahr gab es hier noch eine Tierhandlung, eine Konditorei und ein Kleidungsgeschäft. Hinter zwei Schaufenstern wurde nichts mehr verdient, für den dritten Laden fand sich kein Nachfolger mehr, als der Inhaber in Ruhestand ging. Viele Junge sind schon weg oder gehen bald.

So wie Miltos, der im Restaurant nebenan die Tische putzt. Er hat gerade einen Informatik-Studienplatz in Heraklion bekommen, doch er will an eine Uni in Schweden, wo er sich bessere Chancen ausrechnet. Es ist später Nachmittag und noch extrem heiß. Miltos weiß, dass auch heute Abend kaum einer kommen wird, obwohl sein Vater die besten Souflaki im Dorf brät. Um 70 Prozent sei der Umsatz eingebrochen. Essen gehen ist Luxus geworden.

Einkaufen nicht. Im kleinen Supermarkt von Dimitris Evgenidis direkt gegenüber ist nicht weniger los als sonst. Nur das Sortiment hat sich verändert. Er hat mehr Produkte ohne Markennamen im Angebot. Einige Eissorten seien ganz verschwunden, sagt der 52-Jährige – Lieferanten aus Europa verlangten von griechischen Kunden inzwischen Vorauskasse; da müsse er Abstriche machen. Und, ja, sein Laden sei auch teurer geworden. Der Benzinpreis von gut 1,80 Euro pro Liter schlägt sich über die Transportkosten auf allen Waren nieder. Für drei einfache Joghurts verlangt Dimitritis Evgenidis 3,35 Euro – mindestens das Dreifache dessen, was sie in Deutschland kosten. In Nea Malgara können viele sich das inzwischen nicht mehr leisten – auch wenn einer an der Kasse herumblödelt, Evgenidis’ Laden würde nur geschnitten, weil er Paok Saloniki unterstützt und nicht den fußballerischen Lokalrivalen Aris.

Der Priester verteilt heimliche Spenden

Die Zettel und Körbe im Laden sind die unscheinbaren Anzeichen der Armut, die sich auch in Nea Malgara im Verborgenen vollzieht. Jeder im Dorf kann Dinge für die Körbe kaufen, die die Stadtverwaltung an Bedürftige verteilt. Drei Familien, die nicht mehr weiter wussten, hat man gerade je 1000 Euro zukommen lassen. Ähnlich anonym und diskret geht es zu, wenn „Papa Giannis“, dem orthodoxen Priester am Ort, Geld zugesteckt wird, das er doch bitte diesem und jenem geben solle. „Die Leute machen sich Sorgen, und das sieht man ihnen an“, sagt der Ladeninhaber Evgenidis, der immer mehr Kunden auf immer mehr Zetteln anschreiben lässt: „Ich kenne alle hier – wie könnte ich sie einfach wegschicken?“

Der Arzt muss das mittlerweile tun. Zu den Griechenland im Gesundheitssektor verordneten Reformen gehört die Deckelung der Arzneimittelausgaben. Der Doktor von Nea Malgara darf deshalb nur noch maximal 30 Rezepte am Tag ausstellen. Dabei gilt das Windhundprinzip – nur dass seine Patienten keine Windhunde sind, sondern die Alten, Kranken und Gebrechlichen, die sich oft schon um sechs Uhr morgens in eine Schlange vor seiner Praxis quälen. Schnell ist klar, wer nichts mehr bekommen wird. Menschen, die sich ein ganzes Leben lang kennen, geraten dann aneinander.

Die Armen und Alten müssen auf Gnade hoffen

In diese Schlange stellt sich auch die 71-jährige Anna Protopsaltis regelmäßig. Einmal im Monat muss sie sich ein Rezept ausstellen lassen. „Wenn ich zu spät bin, gehe ich am nächsten Morgen wieder“, sagt sie, in ihrer Wohnung an der Hauptstraße sitzend. 550 Euro Rente bekommt sie. Das hat vor der Krise gerade gereicht, um ein paar Euro zur Seite zu legen. „Jetzt ist das unmöglich“, erzählt sie und verweist auf die Preise im Supermarkt und die immer höheren Zuzahlungen für die Medikamente, die sie braucht. Ohne die finanzielle Hilfe der Kinder – die Tochter wohnt in Thessaloniki, der Sohn in Deutschland – ginge es nicht mehr. Auf ihre alten Tage ist alles anders geworden im Dorf: Das Reisfest, ein Höhepunkt im Festkalender von Nea Malgara, wird nur noch klein gefeiert. Die Ausflüge der örtlichen Seniorengruppe, die sie vor nicht allzu langer Zeit nach Korfu, Kreta oder Istanbul führten, sind Geschichte. Die alte Frau sagt es nicht. Doch es schmerzt.

Im Rathaus wird die Gemeinde, die kaum noch Geld hat, schon lang nicht mehr verwaltet. Das geschieht in Kymina, das mit den Nachbarorten Vrachia und Nea Malgara 1997 zur Gemeinde Axios vereint wurde – der Name des Flusses, der der Gegend einst Reichtum bescherte. In der Krise folgte die nächste Fusion, die Kosten sparen soll: 2010 kamen Chalastra und Echedoros hinzu. Auch Sindos, wo viele Industriebetriebe schließen mussten, was zur Verdoppelung der Arbeitslosenrate führte, gehört dazu. Das Gebilde, in dem insgesamt 45 000 Menschen leben, heißt Delta. Als die Stadtverwaltung kürzlich fünf Putzstellen zu vergeben hatte, meldeten sich 3000 von ihnen. Litsa Protopsaltis, die auf dem Amt arbeitet, stockte der Atem.

Mahnmale der alten Zeit, die in die Katastrophe geführt haben, stehen auch in Nea Malgara. Direkt gegenüber ihrem Haus etwa. 800 000 Euro bot ein Investor noch vor wenigen Jahren für das Grundstück dort – unweit der boomenden Metropole Thessaloniki hätte ein kleines Geschäftshaus entstehen sollen. Doch der Besitzer wollte eine Million haben – geblieben ist eine Brachfläche. Die Hauptstraße ist einst für sehr viel Geld beleuchtet worden wie eine Flughafen-Landebahn – jetzt ist nicht einmal mehr genug da, um die kaputten Lampen zu ersetzen. Ein offenes Geheimnis im Ort ist auch, dass die 100 000 Euro, die einst für einen Radweg von der Regierung in Athen kamen, versickert sind. Nea Malgara hat keinen Radweg.

Am Ende eines langen Feldweges, zwischen hohen Maisstauden, versteckt sich die Hoffnung. Die Hitze, die jetzt zur Mittagszeit unerbittlich ist, scheint Fotis Soumparas wenig auszumachen. Er werkelt auf dem Feld, das sein Vater ihm überlassen hat. „Papa, wir bauen jetzt nicht mehr Gemüse an, sondern Energie“, verkündete Fotis, als er aus China kam. Anfang vergangenen Jahres folgte er dem Appell an alle Auslandsgriechen zurückzukehren, um die Heimat zu retten.

In der Sonne blinken die Solarpanele. Sie stehen auf einem schwenkbaren Gerüst aus Aluminium, das leichter und billiger ist als eine Stahlkonstruktion und die Photovoltaikplatten optimal am Sonnenverlauf ausrichtet. Der 39-jährige Soumparas hat ein Patent auf die Idee und viele Tausend Euro investiert, um sie zum Laufen zu bringen. Dann will ein griechisches Unternehmen in Serienproduktion gehen. Aber auch ein chinesischer Fonds, dessen Manager er in Schanghai kennenlernte, hat Interesse.

Trotz seiner Erfindung ist der Ingenieur skeptisch, ob den Griechen die Rettung – der Verbleib im Euroraum – gelingt. Die Lizenz zur Errichtung eines Solarfelds, die es hätte nach drei Monaten geben sollen, verzögerte sich um gut ein Jahr. Die Stromleitung ist immer noch nicht verlegt. In Nea Malgara wissen sie davon wenig. „Es ist ein kleines Dorf“, sagt Fotis Soumparas fast ein wenig gerührt, „kaum einer versteht, was ich hier draußen auf dem Feld treibe.“

Am Abend kommen viele Leute aus der Nachbarschaft bei Aristos Protopsaltis zusammen. Seine Tochter feiert Kindergeburtstag, die Erwachsenen unterhalten sich. Der Familie des Fuhrunternehmers mit 18 Lastern, der den Reis und anderes Gemüse für gewöhnlich nach Athen kutschiert, geht es noch gut. Aber auch er sagt, am Jahresende könne es eng werden, wenn die Bank nicht helfe. Der Sprit für eine Tour in die Hauptstadt kostet ihn mittlerweile 600 Euro – laut Protopsaltis 45 mehr als vor der Krise. Bei der letzten Steuererklärung seien ihm „die Knie weich geworden“.

„Ich will Dir etwas über Angela Merkel erzählen“, sagt einer aus der Runde in Richtung des deutschen Gastes. Er lässt es dann doch und stößt lieber mit dem nächsten Bier an. Die Verbitterung über die eigenen Verluste, die Unfähigkeit der eigenen politischen Elite und das Spardiktat von außen sind mit Händen zu greifen. „Es kann sich nichts ändern, wenn kein Geld im Markt ist und keiner investiert“, sagt Aristos Protopsaltis, „das größte Problem ist psychologischer Natur. Die Menschen sind verletzt.“