Zum neuen Schuljahr gibt es keine Sonderschulpflicht mehr.

Stuttgarter Norden - Die Vision einer Gesellschaft, die niemanden ausgrenzt, könnte mit dem neuen Schulgesetz ein Stück mehr Realität werden. Ab 1. August gehört die Sonderschulpflicht der Vergangenheit an. Eltern von Kindern mit einer Lernbehinderung oder mit Defiziten in der emotionalen und sozialen Entwicklung, von Mädchen und Buben, die schwerhörig sind oder eine Sprachbehinderung haben, können ihren Nachwuchs nun auch an einer allgemeinen Schule anmelden.

 

„Wie sich diese Gesetzesänderung genau auswirkt, wissen wir noch nicht im Detail“, sagt die Leiterin des Schulverwaltungsamtes, Karin Korn. Derzeit gehe sie aber davon aus, dass im kommenden Schuljahr rund 1000 Mädchen und Buben inklusiv beschult werden. Zum Vergleich: Aktuell sind es 713, vor vier Jahren waren es noch 87 Schüler. Seit dem Schuljahr 2010/2011 hat sich in Stuttgart beim Thema Inklusion im schulischen Bereich einiges getan, nachdem die Landeshauptstadt in Baden-Württemberg zur Schwerpunktregion auserkoren wurde.

Mittlerweile gibt es an 73 allgemeinen Schulen inklusive Angebote – unter anderem an der Bismarckschule in Feuerbach. „Für uns ändert sich mit dem Wegfall der Sonderschulpflicht recht wenig“, sagt Rektor Gerald Mandl. Seit drei Jahren werden Mädchen und Buben an der Werkrealschule inklusiv unterrichtet. Mandl geht für 2015/2016 von insgesamt rund 30 Schülern mit höherem Förderbedarf aus. „Die Anzahl hat sich gegenüber dem aktuellen Schuljahr nicht dramatisch erhöht.“ Die Umsetzung des Inklusionsgedankens sei für die betroffenen Mädchen und Buben sehr positiv zu bewerten. Die individuelle Förderung habe sich verbessert. Zudem würden sich die Eltern dank des präsenten Themas Inklusion jetzt mehr auf einen eventuell vorhandenen Förderbedarf ihres Kindes einlassen. Schüler mit gewissen Behinderungen oder Defiziten habe es schon immer auch an der Regelschule gegeben. Aber nur wenn die Erziehungsberechtigten zustimmen, wird der Nachwuchs auch getestet, ob beispielsweise eine Lernbehinderung vorliegt.

Der Trend geht klar in Richtung Regelschule

„Die Bereitschaft dazu ist größer geworden“, sagt auch Wolfram Dettling. Der Rektor der Förderschule Föhrich begrüßt das, denn so fänden viele Gespräche mit den Eltern statt, um herauszufinden, wie und wo das Kind am besten gefördert werden kann. „Das muss man von Fall zu Fall sehen. Denn was machen wir mit den Kindern, die in einer Regelschule vielleicht überfordert sind?“ Manchmal sei es für die Mädchen und Buben einfach besser, wenn sie an einer Förderschule unterrichtet werden. Da wäre zum Beispiel Manuel (Name von der Redaktion geändert). Seit vier Jahren sei er an der Föhrichschule und habe sich für seine Verhältnisse gut entwickelt. Mittlerweile brauche er auch keinen Integrationshelfer mehr. Das war lange Zeit anders. Wenn es in den Klassen zu laut zuging, habe er angefangen zu schreien. Er habe dann einen Ort gebraucht, an den er sich zurückziehen konnte.

Doch der Trend geht ganz klar hin zur Regelschule. Während Dettling sonst 60 bis 65 Schüler bei sich im Stammhaus hatte, werden es im kommenden Schuljahr wohl nur 29 Kinder sein – 39 werden an anderen Einrichtungen wie der Hattenbühl-, der Bach- oder der Bismarckschule inklusiv beschult. „Das ist natürlich eine Herausforderung für unsere Lehrkräfte, die beispielsweise am Vormittag drei Stunden an der Föhrichschule sind und dann in die Inklusionsklassen gehen“, sagt Dettling.

Hier im Alltag die richtige Balance zu finden, sei keineswegs einfach für die Sonderschullehrer, sagt auch Sabine Oehlschlägel, die Leiterin der Gustav-Werner-Schule. „Zwölf inklusive Bildungsangebote an insgesamt neun Regelschulen in unserem Einzugsgebiet gibt es bei uns“, sagt Oehlschlägel. Was allerdings nicht bedeute, dass die Schülerzahlen für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung an der Gustav-Werner-Schule selbst zurückgegangen seien. „Momentan haben wir 115 Schülerinnen und Schüler, vor zehn Jahren waren es 95“, so Oehlschlägel. Insgesamt seien die Schülerzahlen in den vergangenen Jahren gestiegen. Für das kommende Schuljahr gibt es zehn Anmeldungen, zwei Eltern hätten sich entschieden, ihr Kind auf eine Regelschule zu schicken und inklusiv unterrichten zu lassen, während acht Eltern für ihr Kind das Förderangebot der Sonderschule gewählt hätten.

Förderschule als Bildungs- und Beratungszentrum

Ungefähr 70 Schüler sind an der Seelachschule angemeldet. Etwa 30 davon besuchen die Förderschule in Weilimdorf, die anderen werden an den umliegenden Grund- und Werkrealschulen inklusiv unterrichtet. Die Zahl der Schüler, die an Regelschulen begleitet werden, habe fürs kommende Schuljahr leicht zugenommen, sagt die stellvertretende Schulleiterin Melanie Engelhardt. „Die Anzahl der Schüler bei uns im Haus ist etwa gleich geblieben“. Auch an ihrer Schule ändere sich durch das Gesetz nicht viel, sie empfinde es viel mehr als eine Formalie.

Ziel der Aufhebung der Sonderschulpflicht ist unter anderem, dass die Förderschulen zu Bildungs- und Beratungszentren werden – als was sich sowohl die Seelach- als auch die Föhrichschule aber auch heute schon sehen. Deshalb möchte Wolfram Dettling in naher Zukunft noch mehr und engere Kooperationen im Stadtbezirk Feuerbach knüpfen – beispielsweise mit den Kindertagesstätten. „Wir müssen den Kindern so früh wie möglich eine intensive Betreuung zukommen lassen“, sagt der Rektor der Föhrichschule.