Selbstverletzungen, depressive Phasen, aggressives Verhalten: für viele Jugendliche völlig normal. Doch wie sollen Lehrer darauf reagieren? Schulleiter brauchen Unterstützung.

Stuttgart - Was tun, wenn Schüler sich mit Suizidspielen beschäftigen, Rasierklingen als „best friends“ bezeichnen und sich im Unterricht ritzen, wie an einem Stuttgarter Gymnasium geschehen? Oder wenn sie unter eine Klassenarbeit ein Grab mit ihrem Namen drauf malen. Wenn sie antriebslos herumhängen oder schwänzen? Oder überaktiv sind? Antworten darauf haben sich viele Schulleiter von einem Fachtag des Regierungspräsidiums Stuttgart (RP) erhofft. Thema: „Schüler mit psychischen Auffälligkeiten – was kann Schule tun?“ 480 Interessenten wollten kommen, aber nur 280 fanden in der Alexander-Fleming-Schule Platz.

 

Bei Gesprächen mit Schulleitern große Not wahrgenommen

„Ich habe bei Gesprächen mit Schulleitern eine große Not wahrgenommen“, berichtete Claudia Rugart, die im RP die Schulabteilung leitet. Die Not kommt nicht von ungefähr. „20 Prozent der Drei- bis 17-Jährigen haben ein psychisches Problem“, berichtete der Kinder- und Jugendpsychiater Paul Plener (Uniklinik Ulm). Das belege eine Studie des Robert-Koch-Instituts.

Angststörungen könnten bereits im Kindergarten- und Grundschulalter auftreten. Viele Auffälligkeiten hingen mit der Hirnreifung zusammen, die bei Frauen mit 22, bei Männern erst mit 25 Jahren abgeschlossen sei. Während die Areale für Motivation schon früh ausgebildet würden, werde Impulskontrolle erst spät gelernt – bei vielen Jugendlichen wirke sich das aus „wie ein Sportwagen mit verzögerter Bremse“, so Plener. ADHS sei „kein Mythos“, sondern bedeute eine Reifungsverzögerung. Fünf Prozent der Kinder weltweit hätten die Symptome, die schon im „Struwwelpeter“ skizziert wurden: Sie seien überaktiv, impulsiv, unaufmerksam. Kleiner Trost: Ein Drittel der Betroffenen verliere dies als Erwachsene. Auch Selbstverletzungen sind ein großes Thema an Schulen. Bis zu einem Drittel der Jugendlichen hätten sich schon selbst verletzt, so Plener. „Vier Prozent machen das mehrfach im Jahr – das sind einige Tausend.“

Selbstverletzungen sind ein großes Thema an Schulen

Der Leiterin eines Stuttgarter Gymnasiums sind nur zwei Fälle bekannt, „denn in der Regel verdecken die Schüler es“. In einem gravierenden Fall habe sich eine Zehntklässlerin während des Unterrichts geritzt. Man sei sofort eingeschritten, habe das Mädchen aus dem Unterricht genommen und veranlasst, dass es therapeutisch unterstützt werde. „Man muss nach anderen Möglichkeiten suchen, Spannungen abzubauen“, so die Pädagogin. Plener nennt es „Emotionsregulation“. Gründe fürs Ritzen könnten Zurückweisung, Wut, Verzweiflung sein. „Wir wissen, dass Mobbing ein Risikofaktor ist.“ Auch Missbrauch.

Besondere Aufmerksamkeit erhoffen sich Ritzer über die sozialen Medien, etwa Instagram. So zeigten von 32 000 Bildern aus 6700 Nutzer-Accounts rund 2800 Selbstverletzungen. „Je tiefer und schwerer die Wunde, desto mehr Likes gibt es“, so Plener. Doch wie sollen Lehrer damit umgehen? „Am besten“, so Plener, „ist respektvolle Neugier und die Frage: wobei hilft’s dir?“ Wichtig sei, die Emotionen unten zu halten. Klare Ansage an die Schulleiter: „Offene Wunden haben in einer Schule nichts verloren, auch Narben müssen abgedeckt sein.“ Sonst drohe soziale Ansteckung.

Mediziner: Bitte fragen Sie nach, wenn es jemandem schlecht geht

200 bis 250 Jugendliche in Deutschland töteten sich pro Jahr selbst, so Plener. Die Beschäftigung im Internet mit diesem Thema habe zugenommen und werde durch manche Serien befeuert. 14 Tage nach dem Tod des Fußballtorwarts Robert Enke habe es eine Verdoppelung der Suizide durch Eisenbahnen gegeben. Ein schwieriges Thema in der Schule. „Darf man Jugendliche fragen, ob sie sich umbringen wollen?“, sagt Plener und gibt selbst die Antwort: „Ja. Bitte fragen Sie, wenn Sie das Gefühl haben, jemandem geht es schlecht – das kann Leben retten.“ Im Publikum kamen die klaren Worte gut an. Das sei „hilfreich für uns als Nichtexperten“, so eine Lehrerin. Eine Schulleiterin berichtete, oft meldeten Sportlehrer, wenn etwas mit einem Kind nicht stimme. Wenn es nur noch lange Ärmel trage. Oder wenn Schüler „übers Maß abnehmen“. „Manchmal kommen auch Kinder und sagen: die XY ist traurig.“ Oder Eltern seien ratlos und meldeten sich. Oder die Noten rutschen – „und plötzlich tut sich ein Abgrund auf“. Besonders schwierig seien Essstörungen, so die Pädagogin. Fast immer betreffe das besonders ehrgeizige Mädchen. Oft bräuchten diese eine Auszeit mit therapeutischer Unterstützung. Schule allein bekomme das nicht hin. Solchen Mädchen sage sie aber: „Wir tun alles, damit du dein Abi schaffst.“

Manche Eltern merken gar nicht, wenn ihr Kind die Schule schwänzt

An ihrem Gymnasium habe man ein Frühwarnsystem etabliert, sagt die Schulleiterin – „es gilt das schnelle Eingreifen“. Das heiße: Schulsozialarbeit, Beratungslehrer, Klassenlehrer, Schulleitung und, wenn nötig, externe Unterstützung. „Wenn man Jugendliche beobachtet und nicht blind ist, dann sieht man viel.“ An der Körperhaltung, am Verhalten in der Gruppe, am Fehlen. „Wenn bei uns Kinder viel fehlen, suchen wir nach dem Grund – manche Eltern verlieren da den Überblick“, berichtet die Schulleiterin. Sie betont: „Es ist uns nicht egal, wie’s den Schülern geht.“ Das RP plant nun weitere Fortbildungsangebote.