Experten warnen vor einer überhasteten Einführung vieler neuer Gemeinschaftsschulen. Wenn die Bedingungen nicht stimmen und nicht genügend leistungsstarke Schüler kommen, könnte das Konzept scheitern, sagen die Wissenschaftler.

Stuttgart - „Zwischen 20 und 30 Prozent der Schüler müssen leistungsstark sein, damit die Gemeinschaftsschule funktioniert“, konstatiert der Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl von der Uni Tübingen. Von diesem Anteil sind die meisten der gegenwärtigen Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg deutlich entfernt.

 

Wenn es die neue Schulart nicht schaffe, Schüler zu gewinnen, die im herkömmlichen Sinne eine Gymnasialempfehlung hätten, und sich nur Haupt- und Werkrealschule für die neue Schulart interessierten, könne die Gemeinschaftsschule keine heterogenen Lerngruppen bilden, warnt der Wissenschaftler. Dann entfalte sich das Anregungspotenzial nicht und die Gemeinschaftsschule laufe Gefahr, in einigen Jahren vor der Existenzfrage zu stehen.

Gymnasium muss sich öffnen

Die grün-rote Koalition strebt ein Zweisäulenmodell an, in dem das Gymnasium die eine Säule, die anderen Schularten die zweite Säule bildet.Bohl betonte, das Gymnasium werde von einer starken zweiten Säule profitieren. Es müsse jedoch einen Beitrag zur gymnasialen Bildung außerhalb des Gymnasiums leisten und „offen und konstruktiv“ an der zweiten Säule mitarbeiten.

Bohl rät von reinen Zusammenschlüssen von Realschule und Werkrealschule wie in Sachsen ab: „Die zweite Säule ist nur erfolgreich, wenn sie eine gymnasiale Schiene anbietet“. Wichtig sei, dass die Gemeinschaftsschule für die leistungsstarken Schüler spezifische Angebote mache. Gleichzeitig müssten Mindeststandards definiert werden. Diese sieht Bohl auf dem Niveau des mittleren Bildungsabschlusses.

Nicht nur Lehrer

Daran müsse sich konsequente Individualisierung anschließen. Schüler, die nicht in der Lage seien, ihr Lernen selbst zu organisieren, brauchen gezielte Hilfe. Lehrer allein könnten das nicht leisten. Die Wissenschaftler halten multiprofessionelle Teams mit klar definierten Fachgebieten an Gemeinschaftsschulen mit heterogenen Gruppen für unerlässlich.

Bohl nannte Experten für Diagnose und für Hochbegabung als Beispiele. Der Einsatz von unterschiedlichen Fachleuten erfordert nach Auffassung von Doro Moritz, der Vorsitzenden der GEW, eine bestimmte Mindestgröße der Schulen. Gleichzeitig müssten die Lehrer professionalisiert werden.

Klare Vorgaben fehlen

Die Landesregierung lässt nach Ansicht der Wissenschaftler klare Strukturvorgaben und eine Steuerung vermissen, die verhindert, dass nur bestimmte Schülergruppen sich für die Gemeinschaftsschule interessieren. Weil die Gemeinschaftsschule als Schulart dazu kommt, stehe sie besonders in Städten in Konkurrenz zu Realschule und Gymnasium.

Moritz fordert die Landesregierung auf, nun Bedingungen zu schaffen, unter denen die Gemeinschaftsschulen gelingen könnten. Sie riet davon ab, „sehr schnell, sehr viele Gemeinschaftsschulen zu schaffen“. Auch gehe es nicht darum, Schularten abzuschaffen. Das sieht auch Bohl so. „Lieber weniger Gemeinschaftsschulen mit guter Qualität als zu viele“, sagt der Erziehungswissenschaftler.

Günstige Lösungen

Allerdings betrachtet die Expertengruppe integrierte Schulformen wie die Gemeinschaftsschule als „günstige und perspektivenreiche Lösung“ für den Rückgang der Schülerzahlen und das geänderte Übergangsverhalten auf die weiterführenden Schulen. Die integrierten Systemen seien flexibler und könnten eine Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit leisten.

Das hört Kultusminister Andreas Stoch (SPD) gern. Die Regierung werde in ihrem Kurs bestätigt, den Herausforderungen der Demografie durch den Aufbau von Gemeinschaftsschulen zu begegnen. Bis zum Sommer will Stoch klare Strukturvorgaben vorlegen. In Arbeit seien auch Eckpunkte zur Inklusion, dem gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Schüler.

„Schlimmer Fehlstart“

Dagegen findet die FDP, rot-grün habe mit den ersten Gemeinschaftsschulen einen „schlimmen Fehlstart“ hingelegt, weil sie kleinen Haupt- und Werkrealschulen als einzige Alternative zur Schließung die Gemeinschaftsschule aufgenötigt habe. Sie befürchtet wie die CDU, den anderen Schularten werde das Wasser abgegraben. Die CDU fordert den Kultusminister auf, sich klar zum Bestand der Realschulen und Gymnasien zu bekennen.

Die CDU kritisiert, dass der Gutachter auch im Auftrag des Landes die neue Schulart evaluieren soll. Bohl sei ein „eindeutiger Befürworter“ des Schultyps. Das Land sollte den Forschungsauftrag neu vergeben.

Auf dem aktuellen Stand der Forschung

Insgesamt 19 Wissenschaftler haben im Auftrag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf der Basis der aktuellen Forschung Handlungsempfehlungen für die Gemeinschaftsschulen erarbeitet.

Herausgeber des 368 Seiten starken Bandes „Expertise Gemeinschaftsschule“ sind Professor Thorsten Bohl, der Leiter der Abteilung Schulpädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni versität Tübingen und die Rottweiler Studienrätin Sibylle Meissner.

Zurzeit gibt es in Baden-Württemberg insgesamt 42 Schulen des neuen Typs. Im Herbst kommen 87 weitere Gemeinschaftsschulen hinzu.