Ist Sitzenbleiben sinnvoll oder verlorene Zeit? Die Debatte darüber erregt die Gemüter. Die Landesregierung hat sich auf die Seite der Reformer geschlagen: Sitzenbleiben soll überflüssig gemacht werden. Die FDP kritisiert das mit Verweis auf ein „völlig naives Weltbild“.

Stuttgart - Der neue baden-württembergische Kultusminister Andreas Stoch (SPD) hat sich in der Debatte über das Sitzenbleiben von Schülern auf die Seite der Reformer geschlagen. „Die Angst vor dem Sitzenbleiben ist keine sinnvolle Lernmotivation für die Schülerinnen und Schüler“, sagte er am Samstag der Nachrichtenagentur dpa. Damit unterstützt er die rot-grüne Koalition in Niedersachsen, die mit ihrer Ankündigung, das Sitzenbleiben mittelfristig abzuschaffen, für heftige Reaktionen gesorgt hatte. Gegenwind kam auch von der Opposition aus dem Südwesten.

 

Stoch erklärte, in der jüngst von der grün-roten Landesregierung eingeführten Gemeinschaftsschule könnten die Kinder bereits nicht mehr durchfallen. Dies wolle er Schritt für Schritt auch an den anderen Schulen durchsetzen, indem er entsprechende Voraussetzungen schaffe. „Wir wollen das individuelle Lernen an allen Schularten ausbauen, um jede Schülerin und jeden Schüler dabei zu unterstützen, den jeweils bestmöglichen Abschluss zu erreichen.“ Dann sei Sitzenbleiben nicht mehr nötig.

FDP: „Völlig naives Weltbild“

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke warf Stoch ein „völlig naives Weltbild“ vor. Sein Vorhaben wirke sich motivationsfeindlich auf die Schüler aus. Die Landesregierung könne ja jedem Kind „mit der Geburtsurkunde gleich ein - allerdings wertloses - Abiturzeugnis aushändigen“.

Rülkes Parteikollege Patrick Meinhardt erklärte: „Es muss jedem klar sein, dass es keine anstrengungslose Schule gibt. Selbstverständlich muss es auch weiterhin ein Sitzenbleiben geben.“ Allerdings sollten schlechte Schüler die Chance haben, nach den Sommerferien in einer Prüfung doch noch den Sprung in die nächste Klasse zu schaffen. „Wenn die Landesregierung nicht bereit ist, den Schulen für solche Kurse das Geld zur Verfügung zu stellen, ist das ganze Gerede des Kultusministers purer Populismus.“

Zwei Prozent Wiederholer pro Jahr

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) warnte vor einer Schule der Beliebigkeit. Unmotivierte und unlustige Schüler dürften die Konsequenzen ihres Verhaltens nicht erst im Arbeitsleben zu spüren bekommen. Der Anspruch, durch frühe Förderung das Sitzenbleiben überflüssig zu machen, sei aber grundsätzlich richtig. Dafür müssten jedoch zusätzliche Lehrer eingestellt werden. An dieser Stellschraube wolle die Landesregierung allerdings nicht drehen.

Stoch ist mit seiner Ankündigung genau auf der Linie der designierten niedersächsischen Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD). Sie hatte darauf verwiesen, dass die Koalition ein perspektivisches Ziel formuliert habe, „das nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann“. Im Koalitionsvertrag sei festgeschrieben, Sitzenbleiben „durch individuelle Förderung überflüssig“ zu machen.

„Erhebliche psychische Belastungen“

Bundesweit wiederholen pro Jahr etwa zwei Prozent aller Schüler eine Klasse. In den vergangenen Jahren haben eine ganze Reihe von Ländern entschieden, das Durchfallen ganz oder zumindest teilweise zu streichen. In Hamburg zum Beispiel ist Sitzenbleiben seit dem Schuljahr 2010 abgeschafft. Zurzeit gilt dies für die Klassen 1 bis 9, jährlich kommt eine weitere Stufe hinzu, so dass es bis 2017 in allen Klassen kein Sitzenbleiben mehr gibt.

Nach Ansicht von Stoch „bringt das Sitzenbleiben erhebliche psychische Belastungen mit sich und nimmt den Mädchen und Jungen viel Selbstvertrauen“. Es sei längst nachgewiesen, dass Schüler durch eine sogenannte Ehrenrunde wenig gewinnen, um in der Schule besser voranzukommen.