Region: Verena Mayer (ena)

In Bethlehem wird der heilige Nikolaus zum eiligen Nikolaus. Um 9 Uhr hat er einen Termin bei Grundschülern. Er erzählt ihnen, wie einst der Bischof von Myra einen Vater und seine drei Kindern aus großer Not rettete. Dann: singen, Schokolade verteilen, Fotos schießen.

 

Weiter in die Kinderklinik. Der Nikolaus erzählt den Eltern, dass der Bischof zwar Christ gewesen sei, aber mit Moslems zusammengearbeitet habe. Dann: singen, Schokolade verteilen, Fotos schießen.

Weiter ins House of Hope. Er erzählt den Behinderten die Geschichte von der Geburt Jesu. Dann: singen, Schokolade verteilen, Fotos schießen.

In ein paar Wochen, erzählt Kimmig-Liebe auf dem Weg zum Auto, werde er von den Gefühlen, für die er jetzt keine Zeit habe, übermannt. Dann werde er viel weinen und viel beten. Jetzt muss er rasch weiter. Zum Tent of Nations. Dieses Mal in Zivil.

Ein friedliches Projekt in feindlicher Lage

Der Nikolaus gibt niemals auf.

Von Januar bis November heißt er Wolfgang Kimmig-Liebe, lebt in Aidlingen und arbeitet als Kraftfahrzeugmechanikermeister. Im Dezember verwandelt sich Kimmig-Liebe in den heiligen Nikolaus. Seit 24 Jahren beschenkt er Kranke, Arme und Kinder. In Böblingen, Stuttgart, Rom, New York und sonst wo. Nun eben in Gaza.

Der Nikolaus kennt keine Angst.

Vier Wochen zuvor flogen dort, wo er jetzt steht, Raketen und Granaten durch die Luft. Das Auswärtige Amt warnt noch immer „dringend“ vor Reisen in den Gazastreifen. Kimmig-Liebe juckt das nicht. Er habe Gottes Segen, sagt der 53-Jährige. Fast ein Jahr lang hat er die Reise geplant. Vier Tage kann er bei den Menschen im Nahen Osten sein. Davor und danach wird der Nikolaus andernorts gebraucht.

Der Fremde küsst den Boden

Als der Nikolaus auf der palästinensischen Seite der Grenze steht, geht er in die Knie. Er küsst den Boden, dann ruft er in den Himmel: „Allah, schenke diesem Land Freiheit.“ Die Soldaten machen große Augen. Sie wissen nicht: Sollen sie lachen oder knurren. Wer ist dieser Kerl? Was macht der hier? „I am Santa Claus“, ruft ihnen der Kerl zu. Die Soldaten kontrollieren seinen Pass, durchwühlen seinen Koffer, machen Fotos. Dann lassen sie den Nikolaus durch.

Der Nikolaus hat einen Dolmetscher angeheuert sowie ein Auto samt ortskundigen Fahrer gemietet. Mit hundert Sachen steuert der Palästinenser durch Gaza- Stadt. Der Nikolaus rauscht an klapprigen Eseln vorbei, die noch klapprigere Karren ziehen. Der Dolmetscher zeigt auf das zerbombte Polizeirevier und ein zertrümmertes Verwaltungsgebäude. Der Fahrer lässt das Chaos auf dem Marktplatz zurück und überholt überladene Tuk-Tuks. Der Nikolaus hat nicht viel Zeit. Die Grenze schließt bald wieder. Es ist Freitag, Feiertag bei den Moslems. Deshalb ist es auch nicht einfach, eine Schule zu finden, wo der überkonfessionelle Nikolaus aus Aidlingen Süßigkeiten und Stofftiere verteilen kann. Am Vortag hatten sie auf ihn gewartet. Doch da stand der Nikolaus ja im Regen.

Die Kinder kreischen und klatschen

Schließlich landet er in einem Viertel, wo viele Kinder hausen. Neugierig spicken sie aus Fenstern und schleichen aus Höfen. Die meisten barfuß und in Kleidern, die aussehen, als ob sie schon viele Kinder vor ihnen getragen hätten. Der Nikolaus öffnet seinen Koffer. Er zieht Lebkuchen heraus, Bonbons und Lutscher. Die Kinder werden immer mehr, und sie kommen immer näher. Der Nikolaus streicht über ihre Köpfe und schüttelt ihre Hände. Er packt sein Liederbuch aus. „Lasst uns fro-ho u-hund munter sein“, dröhnt es durch die sandige Straße. Die Kinder kreischen und klatschen im Takt. „Lustig, lustig, tra-la-la-la-laaa.“ Bonbonstimmung in Gaza. „Ich kämpfe für euch“, ruft der Nikolaus, als er davondüst. Die Kinder rennen hinter dem Auto her. Das nächste Mal, sagt Kimmig-Liebe, will er drei Tage in Gaza bleiben. Arme und Schwache gibt es hier viel zu viele.

Der historische Nikolaus hat zwischen 280 und 351 in der Türkei gelebt. Die Legende zeichnet ihn als temperamentvollen Streiter und gnädigen Menschenfreund. Kimmig-Liebe sorgt dafür, dass die Erinnerung an ihn lebendig bleibt. Der Schwabe wandelte bereits des Öfteren durch Patara, wo der Nikolaus geboren wurde. Er schritt durch Demre, das Myra hieß, als der Nikolaus dort als Bischof wirkte. Er ging durch Bari, wo die Gebeine des Heiligen vergraben sind. Selbstverständlich war Kimmig-Liebe auch beim Papst.

Verwirrung am Flughafen

Obwohl der historische Nikolaus auch ins Gelobte Land gepilgert war, wird sein nachfahrendes Abbild bei der Einreise in Tel Aviv nicht sehr herzlich empfangen. „Your Passport“, fordert der Wächter am Flughafen streng, Kimmig-Liebe soll zur Überprüfung seiner Identität den falschen Bart abnehmen. Der Nikolaus weigert sich, er will die Kinder in der Nähe nicht erschrecken. Minutenlange Diskussion, dann gibt er nach, und die Wächter erkennen nach eingehender Prüfung, dass die einzige Gefahr, die von Kimmig-Liebe ausgeht, seine kompromisslose Hilfsbereitschaft ist.

In Nazareth begrüßen die Armen und Schwachen den Nikolaus stürmisch. Sie warten im Flur ihrer Schule auf ihn. Manche der schwerstbehinderten Kinder tragen rot-weiße Zipfelmützen. Aus einem Lautsprecher rappelt „Jingle Bells“. Die Buben und Mädchen hüpfen um den Nikolaus herum, so gut sie können. Er tanzt mit ihnen. Er setzt sich neben sie. Er schenkt ihnen Streicheleinheiten und Schokolade. Manche schreien vor Schreck, wenn der große Mann näherkommt. Wenn er sie dann berührt, schreien sie vor Glück. Alle summen oder brummen mit, wenn der Nikolaus „Ihr Kinderlein kommet“ singt.

„Da kommt so viel zurück. Das gibt so viel Kraft“, sagt Kimmig-Liebe, der für seine ehrenamtliche Mission in der Adventszeit seinen Jahresurlaub nimmt. Für den Besuchsmarathon im Inland stellt ihm eine Mietwagenfirma aus Eschborn ein Dienstauto zur Verfügung. Eine Gebäckfirma aus Aachen finanziert die Reisen ins Ausland und stiftet Lebkuchen. Nach dem Besuch der 320 Kinder in Nazareth sind fast alle Süßigkeiten vernascht. Kimmig-Liebe muss einkaufen. Das ärgert ihn. Daheim stehen palettenweise gefüllte Schokoherzen, er konnte sie nicht mitnehmen: Die Fluggesellschaft wollte ihm keine hundert Kilo Freigepäck schenken.

In eiliger Mission

In Bethlehem wird der heilige Nikolaus zum eiligen Nikolaus. Um 9 Uhr hat er einen Termin bei Grundschülern. Er erzählt ihnen, wie einst der Bischof von Myra einen Vater und seine drei Kindern aus großer Not rettete. Dann: singen, Schokolade verteilen, Fotos schießen.

Weiter in die Kinderklinik. Der Nikolaus erzählt den Eltern, dass der Bischof zwar Christ gewesen sei, aber mit Moslems zusammengearbeitet habe. Dann: singen, Schokolade verteilen, Fotos schießen.

Weiter ins House of Hope. Er erzählt den Behinderten die Geschichte von der Geburt Jesu. Dann: singen, Schokolade verteilen, Fotos schießen.

In ein paar Wochen, erzählt Kimmig-Liebe auf dem Weg zum Auto, werde er von den Gefühlen, für die er jetzt keine Zeit habe, übermannt. Dann werde er viel weinen und viel beten. Jetzt muss er rasch weiter. Zum Tent of Nations. Dieses Mal in Zivil.

Ein friedliches Projekt in feindlicher Lage

Das Tent of Nations von Daher Nassar liegt außerhalb von Bethlehem. Auf dieser Farm produzieren Jugendliche aller Nationalitäten und Religionen Wein und Öl, pflanzen Bäume, ernten Obst und spielen Theater. „Wir weigern uns, Feinde zu sein“, ist das Motto des palästinensischen Projekts, das von jüdischen Siedlungen umzingelt ist. Im Sommer vor zwei Jahren hat Kimmig-Liebe zehn Tage hier verbracht. Zusammen mit einer Fußballmannschaft der SpVgg Aidlingen. Dort kickt Fadi, Daher Nassars Sohn. Kimmig-Liebe hat ihm in Deutschland einen Ausbildungsplatz besorgt und in seiner Familie ein neues Zuhause geschenkt. Und er hat einen Mannschaftsausflug der SpVgg Aidlingen nach Bethlehem organisiert. Damit die Teamkameraden auch Fadis Heimat kennenlernen. „Seid Nikolaus im Alltag“, ist das Motto des gläubigen Katholiken.

Die Reise endet mit der Erleuchtung. Auf dem Platz vor der Geburtskirche Jesu warten Tausende Menschen. Gleich werden die Lichter am Christbaum von Bethlehem angehen. Als der Nikolaus den Platz betritt, ist er sofort der Star. Araber, Engländer, Italiener, Deutsche halten Fotoapparate auf ihn, Kameramänner umkreisen den größten Mann am Platz. Kinder rufen „Baba Noël“ und „Santa Claus“. „Sehr bewegend“, murmelt der Nikolaus, für den ein Stuhl in der dritten Reihe geräumt wurde. Eigentlich sollte Kimmig-Liebe gar nicht mehr in Bethlehem sein. Doch der Ärger an der Grenze zum Gazastreifen hat sein Programm durcheinandergebracht.

Das Schönste kommt zum Schluss

Eine gute Stunde später spricht der Nikolaus mit Salam Fayyad. Umringt von Polizisten, Soldaten und Menschenmassen erzählt er dem Ministerpräsidenten der palästinensischen Autonomiegebiete, dass er Kinder in Gaza und Kinder in Bethlehem beglückt habe und dass er wiederkomme. „I love you“, sagt der Nikolaus zum Ministerpräsidenten. „I love you too“, sagt der Ministerpräsident zum Nikolaus. Seine Perücke aus Büffelhaar ist jetzt zerzaust, die Mitra etwas angegraut, die Krümme des Hirtenstabs wackelt Besorgnis erregend. Doch der Nikolaus leuchtet.