Sowohl Sanitäter in den Rettungswagen als auch Notärzte müssen binnen 15 Minuten am Einsatzort sein: Als einziges Bundesland schreibt Baden-Württemberg diese doppelten Hilfszeiten vor. Medizinische Gründe dafür gibt es nicht, eingehalten werden sie nur selten. Jetzt plant das Innenministerium einen Umbau.

Ludwigsburg - Die Bordwände vibrieren, der Rotor dröhnt immer lauter. Ein sanfter Ruck geht durch die Magengegend, dann ist Christoph 51 in der Luft. Unten windet sich der Neckar wie eine bräunliche Schlange, Spielzeugautos stehen neben Bauklötzchenhäusern im Stau. Hinten im Fond des Hubschraubers liegt eine Frau, die den Ausblick nicht genießen kann. Höllische Kopfschmerzen, Schwindel, Verdacht auf ein Aneurysma – eine gefährliche Hirnblutung. Die Frau muss vom Krankenhaus Heilbronn zum Klinikum Ludwigsburg verlegt werden, weil sie dort besser neurochirurgisch versorgt werden kann.

 

Der Pilot Thomas Roth macht mit seinem Helikopter der DRF Luftrettungsstation Pattonville einen Bogen um eine weiße Wolke. Das Kernkraftwerk Neckarwestheim muss umflogen werden. „Terrorabwehr“, sagt Roth über Bordfunk. Hinten überwacht Rettungssanitäter Christoph Pfeiffer den Zustand der Patientin, während Notarzt Götz Geldner die Übergabe in Ludwigsburg vorbereitet. Alle drei Crewmitglieder achten gar nicht darauf, dass sie gerade etwas höchst Ungewöhnliches getan haben: sie haben mit einem Rettungsfahrzeug eine Kreisgrenze überschritten.

Das Rettungswesen ist hoheitlich aufgeteilt

Eigentlich ist das Rettungswesen in Baden-Württemberg streng hoheitlich aufgeteilt: jeder Stadt- und Landkreis wacht darüber, dass Notfälle auf seinem Territorium möglichst schnell versorgt werden. Nicht immer wird dabei über den Tellerrand in den Nachbarkreis geschaut. Wenn zum Beispiel Christoph 51 unterwegs ist und die Leitstelle in Ludwigsburg sieht, dass der Nachbarhelikopter Christoph 41 in Leonberg gerade verfügbar ist, hilft das wenig. Sie können die Helfer nicht selbst alarmieren, sondern müssen die Kollegen in der Böblinger Leitstelle erst darum bitten. Noch größer sind die Scheuklappen im ländlichen Raum: So können manche Leitstellen auf ihren Displays gar nicht alle Rettungswagen sehen, die verfügbar wären.

„Es kann nicht sein, dass wir ein Kirchturmdenken haben“, sagt Hermann Schröder. Der Feuerwehrmann und Ingenieur (57) ist seit zwei Jahren Referatsleiter für Feuerwehr, Rettungs- und Fernmeldewesen im baden-württembergischen Innenministerium, kurz: Landesbranddirektor. Er will das System der Rettungsbezirke keineswegs abschaffen, „weil die Leute vor Ort besser wissen, wo bei ihnen Schwachpunkte sind“. Doch bei der Kooperation über die Kreisgrenzen hinweg soll sich noch einiges tun. Ein landesweites digitales Datenmanagement soll alle Leitstellen auf denselben technischen Stand bringen. Damit bei der Alarmierung der Notfallhelfer keine wertvollen Minuten verloren gehen.

Der Hubschrauber ist oft unschlagbar

Heilbronn–Ludwigsburg: acht Minuten. Die reine Flugzeit von Christoph 51 ist atemberaubend kurz. Es hat nur gut 40 Minuten gedauert, bis die drei Helfer die Patientin mit ihrer Hirnverletzung übernommen und versorgt haben und sie in der Neurologie am Klinikum Ludwigsburg behandelt werden kann. „Wenn er fliegen kann, ist der Hubschrauber unschlagbar“, schwärmt Thomas Roth. Dieser Pluspunkt macht die Luftrettung für die Rettungsbezirke so wertvoll. Sie kommen bei schweren Fällen zum Einsatz, oder wenn die Notarztwagen alle im Einsatz sind. Die Kollegen am Boden sind auf ihren vier Rädern häufig nicht schnell genug. Strikt genommen: sie brechen ziemlich häufig ein Landesgesetz.

Baden-Württemberg ist das einzige Bundesland, das eine doppelte Frist setzt. In anderen Bundesländern wird lediglich vorgeschrieben, dass irgendeine Form professioneller Hilfe binnen einer gesetzten Frist am Einsatzort ist. In Hessen muss binnen zehn Minuten Hilfe eintreffen, egal ob Notarzt oder Rettungsdienst. Für die Helfer im Ländle gilt: sowohl die Sanitäter in den Rettungswagen als auch die Notärzte müssen binnen 15 Minuten am Einsatzort sein – und das laut Gesetz zumindest in 95 Prozent aller Fälle ihres Rettungsbereichs. Gegen diese doppelte Frist wird seit Jahren verstoßen.

Heikel sind die detaillierten Zahlen für einzelne Orte

Im Jahr 2012 etwa gelang es gerade mal in acht von 37 Bezirken, die 15-Minuten-Frist für Notärzte einzuhalten. Auch bei den Rettungswagen wurde die Latte noch zwölfmal gerissen. Im vergangenen Jahr, so ist zu hören, waren die Zahlen noch schlechter. Immer wenn diese Statistiken in öffentlichen politischen Gremien auftauchen, ist die Aufregung groß. Besonders heikel sind die detaillierten Zahlen für einzelne Orte. Das Innenministerium riet in einem verwaltungsinternen Schreiben vor zwei Jahren, die Zahlen nicht zu publizieren, weil sie „einen falschen Eindruck erwecken und zu einer unnötigen Verunsicherung der Bevölkerung führen“ könnten.

Inzwischen mehren sich allerdings die Stimmen, die der Meinung sind, dass das Land selbst mit seiner strengen doppelten Hilfsfrist Verunsicherung auslöst. Bei den Notärzten im Land herrscht jedenfalls ein gewisses Unbehagen bezüglich der medizinischen Notwendigkeit der Hilfsfristen. „Für Fälle des plötzlichen Herztods bräuchten wir eigentlich eine Hilfsfrist von fünf Minuten“, sagt Matthias Fischer. Der Chefarzt am Klinikum Göppingen und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutscher Notärzte weiß, dass eine solche Forderung unbezahlbar wäre. Er setzt ein Fragezeichen hinter die Notwendigkeit der rein politisch definierten Hilfsfristen. Allerdings sieht Fischer durchaus den Sinn hinter dem Gesetz: Ohne die Fristen sei es schwierig, die Krankenkassen zu Verbesserungen zu bewegen.

Bei eklatanten Verstößen kann die Behörde einschreiten

Zuständig für das Rettungswesen ist der jeweilige Bereichsausschuss – ein nicht öffentlich tagendes Gremium, in dem paritätisch die Kassen und die Rettungsdienste sitzen. Die 50-50-Konstellation führt oft dazu, dass es keine Mehrheiten für Maßnahmen gibt. Die öffentliche Hand – meist die Landratsämter – sind nicht stimmberechtigt, sitzen aber als Rechtsaufsicht mit am Tisch. Bei dauerhaften, eklatanten Verstößen kann die Behörde einschreiten und etwa die Einrichtung einer neuen Notarztwache vorschreiben. In der Praxis wird davon selten Gebrauch gemacht.

„Wir sollten nicht nur auf die Hilfsfristen schielen“, sagt Fischer, „viel wichtiger ist doch, wie es dem Patienten danach geht.“ Hier gebe es noch viel zu wenig Daten. Das Reanimationsregister, eine bundesweite Datensammlung von Fällen mit Herzstillstand, lege allerdings die Vermutung nahe, dass die Menschen im Südwesten wenig von den strengen gesetzlichen Vorgaben haben. In Sachen Qualität der Behandlung von Reanimationsfällen rangiere Baden-Württemberg eher im unteren Mittelfeld.

Es braucht einen Arzt, der die Verantwortung übernimmt

Zudem hält Matthias Fischer es für sinnvoll, in jedem der 37 Rettungsbereiche einen hauptamtlichen ärztlichen Leiter Rettungsdienst zu installieren – das sei in vielen Ländern gängige Praxis. Dieser könne die Daten für den eigenen Bezirk aufbereiten und so im Bereichsausschuss – hier sind Krankenkassen und Rettungsdienste paritätisch vertreten – Druck für Verbesserungen machen. Gleichzeitig könne dieser ärztliche Leiter die Aus- und Fortbildung der Notfallsanitäter steuern. Diese hochqualifizierten Helfer könnten teilweise ärztliche Aufgaben übernehmen, seien aber „kein Hilfsarzt“, betont Fischer. Es brauche stets einen Arzt, der die Verantwortung übernehmen könne.

Landesbranddirektor Hermann Schröder hält einen solchen ärztlichen Leiter zurzeit noch für verzichtbar, gibt dem Notarzt Schröder aber ansonsten in weiten Teilen recht. Die strenge, doppelte Frist von 15 Minuten sei letztlich willkürlich. „Entscheidend ist, dass möglichst schnell kompetent geholfen wird“, sagt der Landesbranddirektor. Er wolle sich dafür einsetzen, dass die Hilfsfrist künftig zweistufig wird. Vorstellbar sei, dass der Rettungswagen mit hochqualifiziertem Notfallsanitäter binnen zwölf Minuten am Einsatzort sein müsse. Dann genüge es auch, wenn der Notarzt erst in 20 Minuten eintreffe.

Daten über die Qualität der Behandlung, aber auch über den Ablauf der Alarmierung hält auch Schröder für unverzichtbar. Das alles soll bei einem Ansprechpartner im Innenministerium gesammelt und verarbeitet werden. „Wir könnten das erste Bundesland sein, das weiß, wie die Notfallrettung exakt abläuft“, sagt Schröder. Der doppelten Hilfsfrist müsse niemand nachtrauern. Dass das Thema mit Blick auf die Landtagswahl 2016 nicht unbedingt schneller vorankommt, ficht Schröder nicht an. Er glaube nicht, dass eine Änderung bei den Hilfsfristen populistisch ausgeschlachtet werde, nach dem Motto: „Grün-Rot will an der Qualität im Rettungswesen sparen“. „Man muss den Leuten die Wahrheit sagen. Und die lautet: wir können mehr Qualität für das gleiche Geld erreichen.“

Mehr Qualität für das gleiche Geld

Nächster Einsatz für die Crew von Christoph 51. Eine lungenkranke Frau muss bei ständiger künstlicher Beatmung in eine Klinik gebracht werden. Schnell ist der Helikopter wieder in der Luft. Während des Fluges spricht der Notarzt und Ludwigsburger Chefarzt Götz Geldner über eines seiner wichtigsten Anliegen. Er setzt sich mit Schulprojekten dafür ein, dass junge Leute in Reanimation ausgebildet werden. „Wenn mehr Leute davon mehr Ahnung hätten, könnte im Ernstfall schneller geholfen werden“, sagt Geldner. Erste Hilfe müsse nicht nur von Fachleuten kommen. „Helfen geht alle an, nicht nur die Profis.“