Seit drei Monaten lebt ein 15-jähriger Syrer bei einem Sindelfinger Ehepaar. Der schwäbisch-syrische Alltag funktioniert trotz Sprachbarrieren und unterschiedlicher Religionen gut.

Sindelfingen - Idyllisch wirkt die Familienszene: Vater, Mutter und halbwüchsiger Sohn werkeln gemeinsam im Garten. Das Herbstlaub wird zusammengerecht, Äste gebündelt. Das Trio scheint ein eingespieltes Team. Doch der Eindruck täuscht. Der 15 Jahre alten Amer recht zum ersten Mal in seinem Leben Laub. In seiner Heimat Syrien gibt es kaum Bäume.

 

Seit knapp drei Monaten wohnt Amer, dessen Namen wir auf Wunsch des Vormunds vom Jugendamt geändert haben, bei der Sindelfinger Familie Arndt. Mitte August kam er nach einer mehrwöchigen Flucht nach Deutschland. Sein Ziel: Sindelfingen. Hier lebt bereits seit anderthalb Jahren sein großer Bruder Taim (Name geändert). Andreas Arndt kennt den 20-Jährigen vom Asyl-Café, bei dem der 56-Jährige sich engagiert. „Taim wirkte Anfang August sehr unruhig. Und als ich ihn ansprach, erzählte er mir, dass er sich um seinen kleinen Bruder sorge, der irgendwo auf dem Balkan unterwegs sei.“

Arndt und seine Frau Christine beschlossen, Amer per SMS eine Einladung auf dessen Handy zu schicken. „Die hätte er Polizisten oder Grenzsoldaten zeigen können, wenn ihn irgendwo jemand an der Weiterreise hätten hindern wollen.“ Glücklicherweise brauchte Amer diese Notfall-Nachricht nicht. „Ich habe mich versteckt, wenn Polizei aufgetaucht ist“, erzählt er. Trotzdem gab ihm die Sindelfinger Adresse eine gewisse Sicherheit.

Plötzlich wieder Eltern

Als er Mitte August dann körperlich unversehrt in Sindelfingen eintraf, führte ihn sein erster Weg zu den Arndts, die allerdings am Tag darauf in den Urlaub fuhren. Amer schlüpfte solange bei Taim unter, der gemeinsam mit einem anderen jungen Mann in einer Wohngemeinschaft in Sindelfingen lebt. Doch als der Mitbewohner, aus dem Urlaub zurückkam, musste Amer wieder ausziehen. Kaum waren die Ferien der Arndts zu Ende, stand Amer wieder vor ihrer Tür. Und sie zögerten keine Sekunde, informierten das Jugendamt und nahmen den Jungen auf.

Die eigenen Kinder sind längst ausgezogen. Die Kinderzimmer hatten sich das Paar als Büros eingerichtet. „Ich habe dann das Zimmer meiner Tochter wieder geräumt und bin mit meinen Sachen ins Arbeitszimmer meines Mannes gezogen, damit Amer Platz hat“, berichtet Christine Arndt. Volle Unterstützung erhielt das Paar auch von Sohn und Tochter. „Meine Tochter hat kein Problem damit, dass sie bei Wochenendbesuchen nicht in ihrem Bett schlafen kann“, sagt die Mutter.

Das Leben der Erzieherin und des Ingenieurs hat sich geändert. Sie haben wieder die Elternrolle für einen pubertierenden Jungen übernommen.. „Die Erfahrung mit unseren eignen Kindern hilft“, sagt Andreas Arndt. „Zum Beispiel, wenn Amer mal nicht pünktlich nach Hause kommt, nicht gleich das Schlimmste zu befürchten. Das haben wir ja schon zweimal mitgemacht.“ Christine Arndts Befürchtungen, den Alltag komplett umkrempeln zu müssen, haben sich zerstreut. „Wir sind mittags, wenn Amer von der Schule kommt, bei der Arbeit. Das ist aber kein Problem. Amer kocht sich dann selbst etwas.“ Für den Jungen ist die Situation ungewohnt. Als er noch zuhause lebte, wartete stets seine Mutter mit dem Mittagessen auf ihren Jüngsten. Doch Amer ist, auch bedingt durch die Flucht, selbstständig geworden.

Bereits vor zweieinhalb Jahren hat er mit seiner Familie die Heimatstadt Daraa im Süden Syriens verlassen. Über Ägypten flüchtete als erster Taim nach Europa – inklusive einer gefährlichen Bootstour über das Mittelmeer. Nun ist auch Amer da, und kürzlich traf der älteste Bruder ein, der noch im Erstaufnahmelager Meßstetten lebt. Die Nähe zu den Brüdern gibt Amer Halt. Doch er vermisst seine Eltern und die Schwester, die noch in Ägypten sind.

Beim Essen fremdeln beide Seiten

Dankbar ist Taim, dass der kleine Bruder bei den Arndts leben kann. „Das ist besser als in einem Heim. Und in meiner Wohnung ist leider kein Platz.“ Die Vormundschaft für Amer hat er nicht erhalten, weil ihn die Behörden nicht überfordern wollen. Zwei- bis dreimal in der Woche sehen sich die Brüder. Unverzichtbar ist Taim als Dolmetscher, wenn es um die Kommunikation zwischen Amer und den Arndts geht. „Unser Englisch ist grottenschlecht“, meint der Pflegevater. Und Amer hat in der Vorbereitungsklasse der Gottlieb-Daimler-Schule gerade erst mit dem Deutschlernen begonnen. Taim, der bald ein Studium beginnen möchte, spricht es schon fast fließend.

Fremdeln tun beide Seiten noch beim Essen. „Ich liebe es schwäbisch, Amer arabisch“, erzählt die Pflegemutter. Deshalb stehen bei den gemeinsamen Mahlzeiten oft verschiedene Speisen auf dem Tisch: Hummus, Kichererbsenbrei für Amer, Spätzle für die Arndts.

Und wie es ist mit der Religion? Christine Arndt ist gläubige Christin, engagiert im Christlichen Verein Junger Menschen und als Kirchengemeinderätin. Amer ist Muslim. „In Syrien haben wir unsere christlichen Nachbarn an Weihnachten immer besucht und sie uns im Ramadan“, erzählt Amer. „Das ist für uns ganz normal.“ Christine Arndt freut sich, dass dem Jungen sein Glaube wichtig ist. „Er gibt ihm gerade jetzt Halt.“ Und als die Familie kürzlich in Berlin war, suchten sie lange nach einer Moschee – damit Amer am Freitag beten konnte.

Fast nur Jungen kommen

Wohngruppen

Zurzeit leben 90 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge im Kreis Böblingen, fast überwiegend Jungen zwischen 15 und 17 Jahren. 20 davon sind in Pflegefamilien untergebracht, die anderen in Wohngruppen oder betreuten Wohngemeinschaften. Träger dieser Einrichtungen sind der Böblinger Verein für Jugendhilfe und das Waldhaus in Hildrizhausen.

Pflegefamilien

Familien, die einen minderjährigen Flüchtling aufnehmen, erstattet das Jugendamt die Kosten für Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und das, was sonst noch notwendig ist. Das Amt sucht dringend weitere Gastfamilien – deutsche und Migrantenfamilien – die einen jungen Flüchtling aufnehmen.

Rechtslage

Minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Deutschland kommen, unterliegen nicht den Gesetzen für Asylbewerber, sondern für sie gilt das Jugendhilferecht. Das heißt, sie haben Anspruch auf Betreuung und Förderung wie deutsche Jugendliche. Zumeist entscheidet ein gesetzlicher Vormund des Jugendamts über wichtige Fragen wie Geldangelegenheiten und Schulbesuch. Im Entwurf des neuen Asylgesetzes, das demnächst beschlossen werden soll, ist der Nachzug von Familienangehörigen von Minderjährigen ausdrücklich vorgesehen. Eine zweijährige Wartefrist wie bei volljährigen Flüchtlingen soll es nicht geben.