Ein Jahr nach der Eskalation beim Polizeieinsatz im Schlossgarten bewegt das Geschehene noch immer die Stadt. Die Wunden heilen nur langsam.

Stuttgart - Ursula Viertel ist am Nachmittag des 30. September 2010 noch keine halbe Stunde im Schlossgarten, als sie etwas tut, das sie am selben Morgen noch für abwegig gehalten hätte. Sie setzt sich einem Wasserwerfer in den Weg, winkelt die Beine an und verschränkt ihre Arme unter ihnen. "Ich hatte gelesen, dass man das so macht, wenn man blockiert."

 

Das Rebellentum wurde der 53-Jährigen nicht in die Wiege gelegt. Wenn sie über ihr Verhältnis zur Polizei redet, dann erzählt die schmale Frau mit den dunklen Haaren als Erstes von ihrem Mann, der beim Landeskriminalamt arbeitet. Wie weit der Rechtsstaat gehen darf, darüber unterhalten sich die beiden beim Abendessen: 20 Jahre diente Ursula Viertel dem Land als Urkundsbeamtin am Amtsgericht.

Am Morgen des 30. September piepst ihr Handy. Parkschützer-Alarm, es geht los im Schlossgarten. Ursula Viertel fährt trotzdem zur Arbeit, wie jeden Morgen. Heute arbeitet sie halbtags in der Fortbildung - ausgerechnet in der Baubranche, was sogar die Stuttgart-21-Gegnerin zum Schmunzeln bringt. Als sie am 30. September nach Hause kommt, geht sie mit dem Hund vor die Tür, dreht eine Runde und setzt sich wieder ins Auto. "Was mich in Stuttgart erwartet, habe ich mir nicht vorstellen können."

"Der Park war voller Menschen"

Klaus Maier will seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Aber der Bereitschaftspolizist will öffentlich machen, was aus seiner Sicht am 30. September 2010 schiefgelaufen ist. "Die Wasserwerfer hätten spätestens am Rand des Parks umdrehen sollen", sagt der 37-Jährige.

Maier ist ein geradliniger Mann von Lande, der auf Umwegen zur Polizei gekommen ist. Nach der Schule hat er einen Handwerksberuf im Nachbardorf erlernt, später ist er zur Polizei gegangen. "Recht muss Recht bleiben", das ist sein Weltbild.

Am "schwarzen Donnerstag" sieht er aus nächster Nähe, wie Wasserwerfer anrollen. Sein erster Gedanke ist: "Die kommen da nie durch, das bringt nichts." Die Beamten sind darauf vorbereitet, einen weitgehend menschenleeren Park zu sichern und hinter den Absperrgittern Stellung zu beziehen. "Aber da waren keine Gitter. Und der Park war voller Menschen", erinnert sich Maier.

"Das war eine politische Entscheidung, die trotzdem reinfahren zu lassen. Und die Polizei lässt solche Spielchen mit sich machen." Mit seinem Rechtsverständnis bringt er das nicht in Einklang.

Das Bild von Dietrich Wagner geht um die Welt

Als Ursula Viertel kurz nach halb zwei über den Ferdinand-Leitner-Steg in den Schlossgarten läuft, haben sich bereits chaotische Szenen abgespielt: Schüler haben ein Polizeifahrzeug gestürmt, Polizisten sie wieder herabgezerrt, Wasserwerfer bahnen sich den Weg. Meter für Meter. Im Biergarten werden Verletzte behandelt.

Schon da ist beim Polizeieinsatz im Schlossgarten vieles schiefgelaufen. In einem Foto bündelt sich später die Erinnerung an diesen Tag: Das Bild von Dietrich Wagner geht um die Welt. Es zeigt einen älteren Herrn, der von zwei jungen Männern gestützt wird. Blut rinnt aus seinen Augen, nachdem er von einem Wasserstrahl getroffen worden ist.

Das Foto wirkt wie die neuzeitliche Aufnahme eines christlichen Leidensmotivs. Es erschüttert die Stadt, es erschüttert die politische Landschaft, die ein Jahr später wie umgepflügt erscheint. Beschädigt wird am 30.September 2010 bei vielen Menschen auch das Grundvertrauen in die Polizei, in die Politik, am Ende sogar in den Rechtsstaat.

Wasserwerfer bei einer friedlichen Demonstration nicht gerechtfertigt

Thomas Mohr glaubt an die Gerechtigkeit. Deswegen ist er vor 21 Jahren Polizist geworden. Er war bei zahllosen Demonstrationen im Einsatz. "Ganz ehrlich, manchmal hätte ich mir gewünscht, so vorgehen zu können wie im Schlossgarten. Aber doch nicht gegen diese harmlosen Menschen."

Mohr ist ein nachdenklicher Mensch. Erst denken, dann reden. Wenn er über die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes am 30. September spricht, sprudelt es aus ihm heraus. "Bei den Kurdenprotesten in Mannheim haben wir Wasserwerfer eingesetzt. Aber die wurden erst gerufen, als die Demonstration gewalttätig wurde", sagt er.

Damals sei es verhältnismäßig gewesen. "Aber dass die im Schlossgarten gleich von Anfang an da waren - mit dieser Machtdemonstration wurde die bewährte Linie der Deeskalation verlassen."

Verhältnis zwischen Polizei und Demonstranten hat sich verändert

Mohr weiß ohne nachzudenken, wann ihm vor einem Jahr klar wurde, dass der Einsatz nicht nach Plan läuft: 12.25 Uhr. "Ich kam mit meiner Hundertschaft in den Schlossgarten. Die Geräuschkulisse war nicht normal. So war es nie bei Stuttgart-21-Einsätzen."

23 Minuten später spritzt der erste Wasserwerfer. Die Stuttgart-21-Klientel kennt der Mannheimer Polizist gut. Bei elf Einsätzen ist der 49-Jährige vor dem 30. September dabei gewesen. "Wir haben immer mit allen geredet - es hat nur noch gefehlt, dass wir nach dem Einsatz zusammen Kaffee trinken gehen." Ein Umgangston, den er mag. Begegnungen mit Demonstranten, wie sie seit dem "schwarzen Donnerstag" kaum noch möglich sind.

Ein Jahr danach schlendert Ursula Viertel durch den Schlossgarten. Ein milder Herbsttag, genau wie damals. Unweit des Planetariums sieht sie ein buntes Zeltlager. Mit dem Schlossgarten-Camping verhält es sich, wie mit dem gesamten Projekt Stuttgart 21. Die einen sagen: ein Schandfleck für die Stadt, in dem sozial auffällige Menschen hausen. Die Gegner des Tiefbahnhofs entgegnen: eine Trutzburg des aufrechten Widerstands. Schwarz oder weiß. Nichts dazwischen.

Ursula Viertel saß mitten in der Kampfzone

Ursula Viertel zuckt mit den Schultern. Sie wuchs in Stuttgart auf, lebte 36 Jahre im Westen, bevor sie hinauszog nach Rudersberg. Ins Grüne. Am Amtsgericht schrieb sie jahrelang Protokolle: Diebstahl, Steuerhinterziehung, Körperverletzung. "Es ging kreuz und quer", erzählt sie. "Am Gericht menschelt es wie überall sonst auch. Aber ich hatte Vertrauen in den Rechtsstaat. Ich muss nicht immer mit ihm einig sein, aber ich muss alles nachvollziehen können."

Am 30. September ist etwas in ihr zerbrochen. Ursula Viertel blickt sich um. Neben dem Biergarten frühstücken Zeltbewohner. Auf der anderen Seite des Wegs ragen die blauen Container des Grundwassermanagements empor, wo früher Bäume standen. "Hier", sagt sie und blickt auf den Asphaltweg, der durch den Park führt, "hier saß ich." Mitten in der Kampfzone.

Wie Erinnerungsfetzen dringen Bilder in ihren Alltag ein. Ursula Viertel bleibt stehen, sie runzelt die Stirn: der verheulte Jugendliche, dessen Freund sie eine Flasche Wasser reicht. Sie selbst, wie sie von drei Beamten weggetragen wird und dabei noch sieht, "wie eine junge Frau neben mir eine volle Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommt".

Kritik von Seiten der Polizei

Die Eindrücke von Tausenden von Menschen fügen sich nachher zu einem Bild des 30. September zusammen, dessen Konturen danach erst allmählich schärfer werden. Pflastersteine, die Demonstranten laut der Polizei geworfen haben sollen, verwandeln sich in Kastanien.

Am "schwarzen Donnerstag" werden Schlagworte geboren, die nachhallen: "Rambo zeigt sein Gesicht." Der Spruch wird am damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus kleben bleiben. Er ätzt sich in seine Karriere.

Es gibt viele Polizisten, die den Einsatz kritisieren. "Wie er gelaufen ist, das ist falsch. Rechtmäßig war er, die Bahn hatte das Baurecht. Aber nicht verhältnismäßig", sagt Thomas Mohr. Er übt Kritik, auch wenn er dafür Konsequenzen zu spüren bekam. "Man hat mich nicht mehr mit meiner Hundertschaft zum Einsatz gelassen." Mit Mühe hat die Gewerkschaft der Polizei den Funktionsträger rehabilitiert.

Politischer Druck löste den Einsatz aus

Seinen Kritikern, die er im Arbeitskreis Polizei der CDU verortet, ist es nicht gelungen, ihn zum Schweigen zu bringen. "Ich sage, was ich denke. Ich weiß, was ich gesehen habe." Mohr redet auch über den Einfluss des Ministerpräsidenten Mappus auf die Polizeiführung.

Warum sonst seien später Protokolle einer Besprechung im Staatsministerium plötzlich verschwunden? Warum fand eine Besprechung vor dem Tag X im Staatsministerium statt? Warum überhaupt dort? "Das war klar eine politische Einflussnahme", glaubt Mohr.

Politischer Druck habe letztlich den damaligen Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf dazu bewegt, den Einsatz durchzuziehen. "Schließlich hatte der Landespolizeipräsident Wolf Hammann Tage vorher gewarnt, dass der Einsatz so nicht machbar ist. Wo gibt es denn so was, dass man auf den obersten Polizisten im Land nicht hört?"

Polizisten leiden unter Ansehensverlust

Die Quittung habe nicht nur Ministerpräsident Mappus bekommen, da sind sich die Polizisten einig. Auch die Beamten bezahlen nach wie vor einen hohen Preis. "Ein Kollege hat mir erzählt, seine Tochter habe ihn tags drauf unter dem Eindruck der Berichte beim Frühstück gefragt: ,Papa, warum schlägst du Kinder?"' Die Beamten leiden unter dem Ansehensverlust, den sie erlitten haben.

"Das mit den ,Kinderschlägern' habe ich nicht gehört", sagt Ursula Viertel. Das Schmähwort brandete vor einem Jahr den Polizisten entgegen. Inzwischen hat Ursula Viertel alle Dokumente über den Wasserwerfereinsatz gelesen, die öffentlich zugänglich waren. "Der Untersuchungsausschuss war eine Farce", urteilt sie. "Ich bin überzeugt, dass vieles von dem, was passiert ist, gewollt und geplant war." Die Grautöne sieht sie nicht.

Brüchig sei der Rechtsstaat. Viel brüchiger, als sie das jemals zu denken wagte. Ursula Viertel ist mit dem "schwarzen Donnerstag" noch nicht fertig. Sie hat an einem Bürgertribunal mitgearbeitet. Es geht um Schuld, um Verantwortung und um das Recht. "Wie kann man nach vorne schauen", sagt Ursula Viertel, "wenn das Vergangene noch nicht bewältigt ist?"