Keiner kennt Basels Straßen besser: Obdachlose bieten Stadtführungen zu Kleiderkammern, Beratungsstellen und Notschlafplätzen an.

„Komm, Schatz, wir gehen Elend gucken!“ Muss man sich so die Motivation der Menschen vorstellen, die um 9 Uhr an der Basler Theodorskirche stehen und auf den Beginn des „sozialen Stadtrundgangs“ warten? Steckt in dem Herrn mit der Randlosbrille und dem gepflegten Bart ein Voyeur, und giert der Mann mit dem Ehering an der perfekt manikürten Hand vielleicht auf den Besuch im Sozialzoo? Die sieben Teilnehmer wollen tatsächlich so dicht wie möglich ran und alles ganz genau wissen, können dafür aber beruflich Gründe vorgeben. Es sind Journalisten, die auf Armutstour gehen und darüber berichten wollen. Kein Problem für Wolfgang Kreibich und Rolf Mauti. Die beiden Männer in den signalroten Jacken, wie sie alle Verkäufer des Straßenmagazins „Surprise“ tragen, sind Profis, Experten der Straße, mit einer Mission.

 

Die erklären sie vor Tourbeginn so: „Wir möchten Menschen die Augen öffnen für Orte, an denen sie sonst achtlos vorübergehen, und hoffen, dass sich so mehr Verständnis und mehr Respekt für Wohnungslose entwickelt.“ Als Guides für Schulklassen, Firmengruppen und Mitarbeiter sozialer Einrichtungen vermitteln sie vor allem Einwohnern neue Einsichten in ihre Stadt. Als Attraktion für Basel-Besucher hat sich das Angebot bisher nicht etabliert, die Orte des Programms stehen auch garantiert in keinem Reiseführer. Statt Kunstmuseum, Zoo oder Basler Münster gibt es Heime der Heilsarmee, Wärmestuben und Gassenküchen zu sehen. Als Erstes geht es zur Notschlafstelle oder zur „Not-Notschlafstelle“, wie Rolf Mauti das Haus in der Alemannengasse nennt, denn hierhin geht nur, wer absolut keine andere Lösung weiß. „Geöffnet wird um 20 Uhr. Wer es nicht bis Punkt zwölf herschafft, der wird nicht mehr eingelassen“, erklärt Mauti weiter.

Zehn Franken kostet die erste Nacht

„An Schlaf ist hier aber nicht zu denken, irgendwo wird immer geschnarcht, gehustet, gestritten, und am nächsten Morgen müssen sich 40 Mann eine Toilette teilen.“ Zehn Franken kostet die erste Nacht, sechs Franken jede weitere. Wer einen ganzen Monat bleibt, zahlt 150 Franken. Rausgeschmissenes Geld in den Augen der beiden Stadtführer. Wer keine Wahl hat, schläft auch hier, und der Wäscheberg vor der Tür zeigt: Es sind viele Menschen ohne Wahl. Dann die Gassenküche. Rolf Mauti und Wolfgang Kreibich sind das perfekte Team - der eine führt die Gruppe an, der andere achtet darauf, dass niemand zurückbleibt. „Nicht, dass es uns so geht wie beim letzten Mal“, erzählt Kreibich. „Da war ein Teilnehmer so begeistert vom Angebot der Kleiderkammer, dass er lieber dort einkaufen ging, als unserer Tour zu folgen.“ Wolfgang Kreibich ist ein guter Geschichtenerzähler, mit fester Stimme und Gespür für die Interessen seiner Zuhörer.

Die Hände des energischen Mittfünfzigers sind immer in Bewegung, zeigen, heben optimistisch den Daumen, weisen den Weg und klopfen auf Schultern, wenn er Menschen trifft, die er vom Leben auf der Straße kennt. An einem Lederband trägt er einen kleinen Schutzengel und einen Schlüssel um den Hals. Kreibich kann Glücksbringer gebrauchen, aber vieles hat er von selbst geschafft: sich mit dem Verkauf des Straßenmagazins „Surprise“ eine Existenz aufgebaut, seine Alkoholsucht bekämpft, eine eigene Wohnung bezogen und sich nun die Chance erarbeitet, dass aus der Tätigkeit als Stadtführer ein echter Job werden kann. Kreibich hat erreicht, worauf viele Obdachlose in Basel nicht mehr recht hoffen können. Ist es ihre Perspektivlosigkeit, ist es Neid oder die Angst, als Vorführobjekt missbraucht zu werden? Als die Stadtführer mit ihrer Gruppe in der Gassenküche ankommen, empfangen einige der Gäste dort sie mit harschen Worten.

Rund 90 Menschen starten hier in den Tag

Nach einer Nacht in Obdachlosenheimen oder Notunterkünften, auf Parkbänken oder in Hauseingängen gibt es in der Gassenküche den ersten Kaffee und ein Frühstück. Rund 90 Menschen starten hier in den Tag, von dem sie nicht wissen, was er ihnen bringen wird. Der große Run ist um 10 Uhr bereits vorbei. Nur zwei Männer sitzen jetzt noch an übergründlich geschrubbten, fast seifenglatten Holztischen und verstecken sich vor der Besuchergruppe hinter ihren Tageszeitungen. Aus der Küche klingt Geschirrklappern, und eine Mitarbeiterin des Sozialteams erzählt von ihrer Einrichtung und von den Bildern an den Wänden des Speiseraums, die im hauseigenen Malatelier entstanden sind. Wolfgang Kreibich und Rolf Mauti sitzen und hören ihr zu. Sie sehen müde aus. Wo Mauti die Nacht verbracht hat, erzählt er nicht, wohl aber, wo er sie gern verbracht hätte, im Männerwohnheim der Heilsarmee an der Rheingasse nämlich. „Das ist ein Luxushotel“, schwärmt er. „Drei Mahlzeiten am Tag, eigener Fernseher, die Möglichkeit, Wäsche zu waschen, und das Wichtigste: Man kann hier schlafen, denn ein Nachtdienst sorgt für Ruhe.“ Wenn Rolf Mauti spricht, erhebt er kaum die Stimme.

Fast sanft und sehr konzentriert wählt er seine Worte, mit denen er sein Insiderwissen preisgibt. Matrose, Monteur und Chemikant ist Mauti in seinen früheren Leben gewesen. Dann ein Unfall, Operationen, Arbeitsunfähigkeit, Verlust der Wohnung und Scheidung. Wie kann man so leben? Betroffene Blicke. Betretenes Schweigen. Die Teilnehmer der Stadtführung laufen steif und förmlich hinter ihm her, während er seine Geschichte erzählt. Mauti aber kann lachen - wieder oder immer noch? Er lacht viel, und dann legt sich ein dichtes Flechtwerk aus Falten über sein Gesicht und verdeckt die tiefen Kerben, die ihm das Leben auf der Straße ins Gesicht geschlagen hat. Vom Männerwohnheim führt die Tour weiter zum Kleiderladen, zur Schuldnerberatung „plus-minus“ und schließlich zum Caritas-Lebensmittelmarkt. Rolf Mauti könnte den Bedürftigen-Ausweis vorweisen, der ihn zum Einkauf berechtigt, aber er nutzt das Angebot nicht.

„Weil ich doch nichts lagern kann“, erklärt er. Wolfgang Kreibich nickt und erzählt, dass er lange nicht gewusst habe, dass Rolf obdachlos sei. Obdachlose seien doch sonst immer daran zu erkennen, dass sie ihre Habseligkeiten und ihre Lebensmittelvorräte in prallen Säcken mit sich herumschleppten. „Rolf habe ich nie auch nur mit einer einzigen Tüte gesehen.“ Ohne Ballast lässt es sich leichter laufen, und laufen müssen Obdachlose viel. Es ist ein ständiges Pendeln zwischen ihren Zufluchtsorten. Jede Station gliedert den Tag, gibt ihm, der sonst zäh wie Honig fließen würde, Ziele. Ein Gang durchs Leben der anderen ist anstrengend. Für die Teilnehmer der Stadtführung endet er im Aufenthaltsraum des Hauses Elim, eine weitere Wohneinrichtung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Nach zwei Stunden Führung durch Basel sinken alle in die Sitze schwarzer Lederpolster. Wolfgang Kreibich und Rolf Mauti bitten um ein Feedback.

Die einen loben die Tour als touristentaugliche Form eines Selbsthilfeprojekts, andere sehen darin auch eine Schlüsselloch-Show, fürchten den voyeuristischen Blick. Ginge es denn auch anders? Sind wir nicht alle Routiniers des Wegschauens und der Achtlosigkeit? Hat sich der Anblick von Armut nicht schon lange abgenutzt? Das Angebot von Surprise schafft Kontakte und baut Berührungsängste ab. Wolfgang Kreibich und Rolf Mauti finden mit ihrer neuen Aufgabe wieder einen Platz im Gemeinwesen und gewinnen ihre Souveränität zurück. Die Stadtführungen bringen ein bisschen Glück in ihre Tage - und Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

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