Bernhard Langs „Re:igen“ nach Schnitzler ist bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt worden. Es herrschten für das Theater verkehrte Verhältnisse: statt auf den Rängen saßen bei dieser Aufführung die Zuschauer auf der Bühne.

Schwetzingen - Alfred Kerr, der grob-zarte, auf jeden Fall geniale Theaterkritiker brachte die plusternde Empörungsblase über Arthur Schnitzlers „Reigen“ zum Platzen: „Die Welt ist, zum Donnerwetter, kein Kindergarten . . . Es wird auf die Dauer zu fad, vor allen wichtigsten Begleitumständen der menschlichen Fortpflanzung sich tot zu stellen; sich dumm zu stellen.“

 

Was also spricht gegen ein Bühnenstück über die „angewandte Liebe“, zehn Szenen, zehn Paare? Die Dirne und der Soldat, der Soldat und das Stubenmädchen, das Stubenmädchen und der junge Herr, und so geht es fort, rauf die soziale k.u.k.-Leiter, und runter. Am Ende landen wir wieder bei Leocadia, der Prostituierten. Der Skandal nach der Veröffentlichung seines Buches 1903, die Stinkbomben bei den Vorstellungen und Aufführungsverbote 1920/21 sind im Jahr 2014 verhalltes Begleitgeklimper zu einem Stück, das literarisch weniger Abdruck hinterlassen hat, als sein Epochenbefund: der einer lügnerischen, mit schweren Schatten überdeckten Gesellschaft – nicht allein in eroticis.

Ist es Schnitzlers Kammerform, vielleicht die flirrende Varianz der Geschlechterkonstellationen – der Autoren-Arzt zeigt die Männer manchmal in all ihrer prachtvollen Würstchenhaftigkeit, wenn etwa das Geschlecht des jungen Herren als Werkzeug plötzlich nicht gehorchen mag: der Film-, Ballett- und Musicaladaptionen jedenfalls sind viele. Als Oper gab es den Liebesreigen 1993 in Brüssel von Philippe Boesmans, und nun ist die Fassung des Österreichers Bernhard Lang herausgekommen: „Re:igen“ wird der Titel ebenso prätentiös wie überflüssig digitaldeutsch geschrieben. Es ist Langs zweite Uraufführung bei den Schwetzinger Festspielen nach dem „Alten vom Berge“ 2007.

Die Zuschauer sitzen auf der Bühne

Nicht zum ersten Mal hier sind die Verhältnisse verkehrt, sitzen die Zuschauer auf der Bühne und schauen auf die Ränge des 1753 eröffneten Theaterschatzes. Samt einiger Logen wird das mit schwarzem Stoff ausgeschlagene Parkett des Auditoriums zur Szene; zehn historische Theatersessel, etliche Monitore und gute alte Röhrenfernseher stehen verstreut (Bühne: Georges Delnon). Im ersten Rang verteilen sich die 23 Musiker das Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart, zentral und en face zum Publikum agiert der Dirigent Rolf Gupta – er ist tatsächlich der beste Akteur an diesem Abend: trocken leichthändig wehrt er einen falschen Einsatz der Flöte hie ab, dort gibt er mit der nach oben wischenden Linken einem Sänger den Einsatz. Ein cooler Hund, der sich zwischendurch eine Zigarette anzündet (keine Bange Denkmalschützer, das inszenierte Ascheglühen liefert eine Batterie).

Unten dagegen mühen sich arg die Darsteller der Quer-, Fremd- und Durcheinandergeher (Almerija Delic, Cornel Frey, Clara Meloni, Alin Deleanu, Amélie Saadia, Kai-Uwe Fahnert, Lasse Penttinen – allesamt nicht mehr als passable Sänger, aber halbnackt präsentabel), genötigt von Michael Sturmingers keine Übersetzungen in Bilder schaffender Textfassung und von Georges Delnons Klischeeklitschenregie, die alles verdoppelt und verdreifacht. Kommt es zum Geschlechtsakt, zeigt das Video rasende Autos, die Tunnel penetrieren. Zugegeben, Cineasten wird einiges geboten, Zitate-Raten vom „Reigen“-Film bis zu Jean-Luc Godards „Alphaville“.

Sturminger hält sich eng an Schnitzlers Dialoge, hat sie lediglich gekürzt, die Austriazismen getilgt, Motive dezent modernisiert, aus dem Soldaten wurde ein Polizist, aus dem Grafen ein Privatier und den Schleier ersetzt eine Sonnenbrille. Der Komponist kommt mit sieben Sängerinnen und Sängern aus, künstlerisch schlägt er wenig Kapital aus den Doppelbesetzungen. Nur die Besetzung der Schauspielerin mit einem Countertenor erscheint auf den ersten Blick als eine spielerische Weiterung. Doch so, wie Alin Deleanu (vorher auch als junger Mann) unter dem Protektorat von Delnon die im Original fein spöttische, die Männerrollen entlarvende Figur als kreischig-tuntigen Transvestiten mit abgeknickter Hand gibt – und dafür natürlich am meisten Applaus einheimst –, gleicht das bloß einer der vielen genderkorrekten Gay-Fassungen des „Reigens“, die es seit den Siebzigern vor allem in den USA gegeben hat. Das fügt dem Charakter und dem Stück nichts hinzu.

Zehn mal zehn Minuten als Ziel

Bernhard Lang komponiert formkonform: zehn mal zehn Minuten pro Szene sollten es werden. Das ist nicht ganz aufgegangen, aber der Großrhythmus stimmt, auch der Farbwechsel vom Sprechgesang zum wippenden Swing und zurück. Schnitzlers beredtes Auslassungszeichen, drei Punkte, wenn es auf der Bühne zum Koitus kommt, ersetzt Lang durch einen Zehntonakkord, angeschmutzt durch Vierteltöne, der – delikate sprachliche Assonanz – lange stehen bleibt: mal pulst, mal anschwillt und dann auch recht konventionell als Pathosgeste im vierfachen Piano verklingend die Oper beschließt. Bernhard Lang komponiert kurzweilig, polystilistisch, Werke mit erotischen Sujets zitierend wie Claude Debussys „Jeux“-Ballett, Alban Bergs „Lulu“-Oper; hangelt sich aber meist am Text entlang, oft im Sprechgesang, selten arios ausschwingend, mit kleinen Verfremdungen, wenn eine Wiederholungsschlaufe eingebaut ist als ob eine Schallplatte hakt. Wenn es aber in die Geschlechtsgegend geht, fahren die Stimmen exaltiert in die Höhe. Wie öde.

Arthur Schnitzler hatte starke Zweifel, ob seine „Komödie“ auf die Bühne gehört. Die in Schwetzingen sehr zustimmend aufgenommene Oper hat diese Zweifel nicht ausgeräumt.