„Völlig normal“ sind homosexuelle Lebensgemeinschaften vielleicht im Alltag westlicher Länder. Im Kino sieht es anders aus. Eine cinéastische Weltreise und die Entdeckung der Vielfalt schwulen Filmschaffens.

Stuttgart - Als 2005 Ang Lees Film „Brokeback Mountain“ in die Kinos kam, der die Liebesgeschichte zweier schwuler Cowboys erzählt, wurde er von einem außergewöhnlichen Medienrummel begleitet. Das Melodram wurde als Pioniertat gepriesen, und man konnte den Eindruck gewinnen, hier hätten zum ersten Mal in der Filmgeschichte homosexuelle Männer eine positive Hauptrolle spielen dürfen. Filmhistoriker wissen, dass das nicht stimmt. Wer Klassiker des schwulen Kinos zum Vergleich heranzieht, wird zudem feststellen, dass etwa Luchino Viscontis „Tod in Venedig“ (1971), Rainer Werner Fassbinders „Querelle“ (1982), Patrice Chéreaus „Verführter Mann“ (1983), Pedro Almodóvars „Gesetz der Begierde“ (1986), James Ivorys „Maurice“ (1987) oder Derek Jarmans „Edward II“ (1991) die Liebe zwischen Männern wesentlich weniger keimfrei darstellen als „Brokeback Mountain“. Die Strategie, eine homosexuelle Liebesgeschichte für ein konservatives Publikum annehmbar zu machen, hat eben ihren Preis: viel Pathos, wenig schwule Erotik.

 

Das heißt nicht, dass in den letzten zwanzig Jahren keine sehenswerten schwulen Filme produziert wurden. Sie finden nur selten den Weg in die deutschen Kinos. Um sie zu sehen, muss man Festivals besuchen, wie etwa hier in der Region das Queer-Film-Festival, das alljährlich Anfang November im Kommunalen Kino in Esslingen eine Woche lang neue Filme mit schwul-lesbischer Thematik vorstellt. Es gibt in Deutschland auch einen Filmpreis, den Teddy Award, der während der Berlinale seit 1987 jedes Jahr für den besten schwulen oder lesbischen Film verliehen wird. Abseits dieser Festivals ist man aber auf DVD oder Download angewiesen, die einem diese Produktionen ins eigene Wohnzimmer bringen, meist in der Originalsprache mit deutschen Untertiteln.

Schwuler Lebensstil in seiner ganzen Vielfalt

In der englischen Zeitschrift „Sight & Sound“ erschien 1992 ein Artikel der Filmkritikerin B. Ruby Rich, der als Manifest für ein „New Queer Cinema“ gelesen wurde. Rich bezog sich dabei auf Regisseure wie Gus Van Sant („My Own Private Idaho“, 1991) oder den schon genannten Derek Jarman. In deren Arbeiten sah sie eine Filmsprache verwirklicht, die nicht mehr der Mehrheitsgesellschaft schwule Charaktere als nette Jungs schmackhaft machte, sondern den schwulen Lebensstil in seiner ganzen provozierenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit darstellen wollte.

Inzwischen gibt es noch ein neueres Schlagwort: „New-Wave Queer Cinema“. Geprägt hat es der Journalist Ben Walters 2012 im Londoner „Guardian“. Als Modelle für diesen Trend nennt er „Weekend“ (2011) des englischen Regisseurs Andrew Haigh und „Keep the Lights on“ (2012) des Amerikaners Ira Sachs. Häufig wird diesen beiden noch David Lamberts Debütfilm „Hors les murs“ (Jenseits der Mauern, Belgien/Frankreich/Kanada 2012) als Dritter im Bunde beigesellt. Gemeinsam ist den drei Filmen nach Meinung der Kritiker, dass es in ihnen nicht mehr um das Coming-out oder die Auseinandersetzung mit einer homophoben Gesellschaft geht. Schwulsein ist in diesen Filmen kein Drama mehr, gefeiert wird auch nicht der heilig-sündige Außenseiter wie noch bei Pier Paolo Pasolini. Sie setzen vielmehr postemanzipatorisch den schwulen Lebensstil als selbstverständlich voraus und widmen sich den alltäglichen Problemen in den Beziehungen zwischen zwei Männern.

Das Ende spezifisch homosexueller Filmkultur?

In „Jenseits der Mauern“ gibt es eine Szene, die zeigt, was damit gemeint ist. Ilir (Guillaume Gouix) und Paulo (Matila Malliarakis) möchten in einem Brüsseler Hotel ein gemeinsames Zimmer für eine Nacht mieten. Als der Portier wissen will, ob sie getrennte oder gemeinsame Betten wünschen, fragt Ilir provozierend zurück: „Sehen wir etwa nicht aus wie ein Paar?“ Der Hotelangestellte verhält sich politisch korrekt, hat überhaupt kein Problem mit einem schwulen Paar. Das Traurige in dieser Szene ist nur, dass Ilir und Paulo längst kein Paar mehr sind, dass die gemeinsame Nacht im Hotel das Ende ihrer Beziehung besiegeln wird. Und daran ist keine homophobe Gesellschaft schuld, die Gründe dafür liegen woanders.

Aber brauchen wir, wenn Homosexualität kein Problem mehr ist, noch schwule Filme? Oder wird der Erfolg der homosexuellen Emanzipationsbewegung zum Ende einer spezifisch homosexuellen Kultur führen, so dass diese langfristig im kulturellen Mainstream aufgehen wird? In den USA ist der Publizist Andrew Sullivan der entschiedenste Verfechter dieser These und hat sie bereits 1995 in seinem Buch „Virtually Normal“ (deutsch 1996 unter dem Titel „Völlig normal“) und 2005 in seinem Artikel „The End of Gay Culture“ in der Zeitschrift „The New Republik“ vertreten.

Ein schwules Traumpaar als Serienhelden

Wird also als Ergebnis der schwul-lesbischen Emanzipation das Modell Mann-Frau-Reihenhaus-Kind einfach um die Variante Mann-Mann-Reihenhaus-Hund oder Frau-Frau-Reihenhaus-Katze ergänzt werden? Zweifel sind angebracht. Die Verhältnisse in den urbanen Zentren Westeuropas und Nordamerikas sind nicht weltweit übertragbar, schon in den ländlichen Regionen sieht die Lage weniger gemütlich aus. Von Staaten wie Russland, der Volksrepublik China oder vielen muslimischen Ländern ganz zu schweigen. Ein weiteres Argument für die Vermutung, dass es auch in Zukunft ein „Queer Cinema“ geben wird, lässt sich frei nach Tolstoi so formulieren: Alle glücklichen homosexuellen Beziehungen gleichen einander und sind langweilig, alle unglücklichen sind einzigartig. Die Lebensform Mann-Mann-Reihenhaus-Hund mag es im wirklichen Leben geben – ins Kino locken wird sie keinen.

Begeben wir uns also auf eine Weltreise durchs neuere „Queer Cinema“ (zu dem auch Fernsehserien zu rechnen wären), wobei wir uns aus Platzgründen auf schwule Filme beschränken. Die Auswahl ist subjektiv, aber hoffentlich nicht ganz willkürlich. Unsere erste Station ist eine Schule in Madrid, in der die Seifenoper „Física o Química“ (Physik oder Chemie) spielt, die der spanische Privatsender Antena 3 von 2008 bis 2011 in sieben Staffeln mit insgesamt 77 Folgen ausgestrahlt hat. Zu den Schülern des Gymnasiums gehört auch Fernando, genannt „Fer“ (Javier Calvo), der im Verlauf der ersten Staffel sein schwules Coming-out absolviert. In der dritten Staffel taucht dann David auf (Adrián Rodríguez) – und Fer hat seinen Märchenprinzen gefunden. Die beiden Jungs werden in Spanien von den Fans der Serie als schwules Traumpaar verehrt und haben wahrscheinlich mehr zur Akzeptanz homosexueller Teenager beigetragen als alle Antidiskriminierungsgesetze.

In Deutschland kaum Neues

Zum Genre „Teeniefilm“ muss man auch Marco Kreuzpaintners „Sommersturm“ rechnen (Deutschland 2004). Robert Stadlober spielt in diesem Coming-out-Drama einen Jugendlichen, der sich in seinen besten Freund (Kostja Ullmann) verliebt und damit klarkommen muss, dass diese Liebe nicht erwidert wird. „Sommersturm“ hat das Genre nicht neu erfunden, aber der altbekannten Geschichte eine zeitgemäße Form gegeben, nicht zuletzt durch den stimmigen Soundtrack, der wesentlich zum Erfolg beim anvisierten Zielpublikum beigetragen hat.

Gibt es sonst noch was aus Deutschland zu vermelden? Eher nicht. Zwar wurde Stephan Lacants „Freier Fall“, der diesen Sommer in die Kinos kam, von einigen zu einem „Brokeback Ludwigsburg“ hochgejubelt, aber die Story um den Polizisten Marc (Hanno Koffler), der von seinem Kollegen Kay (Max Riemelt) vom Pfad der heterosexuellen Ehe hinüber ans andere Ufer gelockt wird, verhält sich zum „New-Wave Queer Cinema“ wie ein schwerfälliger Tanker zu einer leichten Fregatte.

Glück in der provinziellen Enge

Wie man eine Geschichte aus der Provinz klischeefrei erzählen kann, beweist Roberto Castóns sprödes Spielfilmdebüt „Ander“ (Spanien 2009), das in der ländlichen Abgeschiedenheit des Baskenlandes spielt. Die beiden Männer, die hier ihre Gefühle füreinander entdecken, der Bauer Ander (Joxean Bengoetxea) und der peruanische Landarbeiter José (Christian Esquivel), entsprechen nicht den szeneüblichen Schönheitsidealen, und sie finden schließlich trotz der provinziellen Enge eine originelle Form für ihr gemeinsames Leben.

Lateinamerika ist seit einigen Jahren zu einem fruchtbaren Terrain für den schwulen Film geworden. Der Mexikaner Julián Hernández hat bereits für zwei Filme den Teddy Award der Berlinale erhalten, je einmal wurden die Argentinierin Anahí Berneri und ihr Landsmann Marco Berger mit dem schwul-lesbischen Filmpreis ausgezeichnet. Berneris „Ein Jahr ohne Liebe“ (Argentinien 2005) spielt Mitte der neunziger Jahre, als die ersten Erfolg versprechenden Medikamente gegen Aids auf den Markt kamen, und begleitet den Schriftsteller Pablo (Juan Minujín) durch ein Fegefeuer von Arztterminen, bei Besuchen in Pornokinos und auf Partys der SM-Lederszene, ohne dabei reißerisch zu wirken. Marco Berger erzählt in seinem mit dem Teddy prämierten Film „Ausente“ (Abwesend, 2011) die längst breitgetretene Geschichte vom sexuellen Missbrauch in einer spiegelverkehrten Version. Ein 16-jähriger Schüler (Javier De Pietro) versucht hier mit allen erdenklichen Tricks, seinen Sportlehrer (Carlos Echevarría) zu verführen, was Berger als Thriller in Hitchcocks Manier inszeniert.

Die Macht der Bilder und der Musik

Weniger mainstreamtauglich sind die Spielfilme von Julián Hernández, in denen der Mexikaner konsequent einen eigenen Stil entwickelt hat. Man könnte ihn katholisch nennen, denn Hernández hält nichts vom wortreichen Zerreden von Problemen, sondern setzt auf die Macht der Bilder und der Musik. In „Mil nubes – Liebessehnsucht“ (2003), „Broken Sky“ (2007) und dem dreistündigen „Raging Sun, Raging Sky“ (2009) wird wenig gesprochen; untermalt von mexikanischen Schlagern folgt die Kamera den Bewegungen der männlichen Protagonisten in urbanen Räumen von Mexiko-Stadt, als wären sie Tänzer in einem Ballett, begleitet sie beim Auseinanderdriften und Sich-Wiederfinden.Der schönste der neueren lateinamerikanischen Filme spielt in einem Fischerdorf an der peruanischen Pazifikküste. Miguel (Cristian Mercado) ist glücklich verheiratet, seine Frau erwartet ein Kind. Doch er hat ein Geheimnis, trifft sich heimlich am Strand mit dem Maler Santiago (Manolo Cardona) zum Rendezvous. Dieses bisexuelle Doppelleben wird paradoxerweise erst dann zum Problem, als Santiago beim Schwimmen im Meer ertrinkt. Javier Fuentes-Leóns Film „Contracorriente“ (Gegen den Strom, Peru/ Kolumbien/Frankreich/Deutschland 2009) macht Anleihen beim magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur und lässt den Toten als Geist wiederkehren, der Miguel keine Ruhe lässt, bis der ihn den ortsüblichen Riten gemäß bestattet hat. Dazu muss er sich vor der Dorfgemeinschaft zu seinem verstorbenen Geliebten bekennen. Der Film zeigt, dass Männlichkeit auch heißen kann, öffentlich zu seiner sozial geächteten Homosexualität zu stehen, und erreicht damit eine Umdeutung des klassischen lateinamerikanischen Machismo.

Aus Balzacs Roman „Verlorene Illusionen“ kennt man die Geschichte vom jungen Mann aus der Provinz, der in die große Stadt aufbricht, um sein Glück zu machen. Vier Filme aus Ostasien erzählen ihre je eigene schwule Version dieses Modells. In „Lost in Paradise“ (Vietnam 2011) lernt ein 20-jähriger Junge vom Land in Saigon einen Stricher kennen und lieben, was der Regisseur Ngoc Dang Vu als tränenreiches Melodram in Szene setzt. In der Teenagerkomödie „Formula 17“ (Taiwan 2004) macht sich ein 17-Jähriger auf in die Hauptstadt Taipeh, um seinen Märchenprinzen zu finden, was ihm nach einigen Turbulenzen auch gelingt. In „No Regret“ (Südkorea 2006) kommt ein Waisenjunge nach Seoul und verliebt sich in einen Unternehmersohn, was wegen des Klassengegensatzes zwischen den beiden nicht gut ausgeht. Und in „Permanent Residence“ (Hongkong 2009) erzählt der Hongkonger Regisseur mit dem Künstlernamen Scud von der Freundschaft zwischen einem schwulen IT-Spezialisten und einem heterosexuellen Ingenieur, die nie miteinander Sex haben und nicht voneinander loskommen.

Eine Art schwules „Before Sunrise“

Doch zurück nach Europa, zu David Lamberts „Jenseits der Mauern“ und Andrew Haighs „Weekend“. Während Lamberts Paar Ilir und Paulo nach dem euphorisch-verspielten Beginn ihrer Beziehung in eine Krise gerät, weil Ilir mit Drogen erwischt wird und für achtzehn Monate ins Gefängnis muss, gönnt Haigh seinen Protagonisten Russell (Tom Cullen) und Glen (Chris New) nur ein Wochenende.

Und dennoch ist daraus einer der schönsten Liebesfilme der letzten Jahre geworden, so etwas wie die schwule Version von „Before Sunrise“. Wir begleiten die beiden Endzwanziger aus Nottingham gewissermaßen in Echtzeit von Freitagnacht bis Sonntagabend durch dieses Wochenende, beobachten sie beim Reden, Blödeln, Streiten, Kiffen und miteinander Schlafen, bis zur herzzerreißenden Abschiedsszene auf dem Bahnhof, als Glen auf Nimmerwiedersehen in den Zug steigt.

Queer Cinema in der Region

Schwule und lesbische Filme auf DVD oder Blu-ray werden in Deutschland von zwei Anbietern vertrieben: von Pro-Fun Media in Frankfurt und von der Edition Salzgeber in Berlin . Salzgeber veranstaltet mit dem Schwulenmagazin „Männer“ auch in Stuttgart einmal im Monat eine Gay-Filmnacht: im Cinemaxx im Boschareal. Am 26. Juli läuft Nathan Adloffs Film „Nate & Margaret“ (USA 2012, OmU), Beginn 21 Uhr.

Die 25. Ausgabe des Queer-Film-Festivals in Esslingen findet vom 31. Oktoberbis 6. November im Kommunalen Kino Esslingen statt. Hier gibt es eine Übersicht über schwul-lesbische Filmfestivals in aller Welt.