Konstanzer Forscher haben das Erbgut der Seepferdchen entschlüsselt. Es unterscheidet sich stark von anderen Fischen – und erklärt viel über die Entwicklung dieser Tiere.

Stuttgart - Kopf und Nacken scheinen eindeutig zu einem Pferd zu gehören. Nur sitzt das Ganze auf einem aufrechten Leib, der nahtlos in einen Wurm übergeht, der sich gerade um ein Seegras schlingt. Ein Seepferdchen ähnelt also verblüffend den sagenhaften Schimären aus der griechischen Mythologie, Mischwesen also, die zum Beispiel vorne einem Löwen, in der Mitte einer Ziege und hinten einer Schlange gleichen. Nur sind Seepferdchen viel kleiner als diese Schimären. Sie sind auch nicht furchterregend, sondern eher niedlich. Traditionelle Geschlechterrollen haben diese Fische schon längst über Bord geworfen, die Männchen sind von der Befruchtung der Eier bis zur Geburt für den Nachwuchs voll verantwortlich.

 

Vor allem sind Seepferdchen keine Sagengestalten, sondern schwimmen quicklebendig im Meer. Evolutionsforscher wie Axel Meyer von der Universität Konstanz interessieren sich daher brennend dafür, wie diese lebenden Sagengestalten entstanden sein könnten. Ein wenig lüften sie ihre Geheimnisse, seit Axel Meyer, Quiang Lin und Quiong Shi vom South China Sea Institute of Oceanology sowie Byrappa Venkatesh von der Technischen Universität Nanyang in Singapur gemeinsam mit ihren Mitarbeitern das Erbgut des Tigerschwanz-Seepferdchens Hippocampus comes entziffert und nun im Fachblatt „Nature“ vorgestellt haben.

23 458 Gene im Seepferdchen-Erbgut

Genau 23 458 Gene haben die Forscher im Seepferdchen-Erbgut gezählt. Damit kommen die Sagengestalten mit einer ähnlichen Zahl von Erbanlagen aus wie der Mensch – obwohl das Genom der Zweibeiner mit 3270 Millionen Bausteinen fast fünfmal größer als die 695 Millionen Basenpaare des Seepferdchen-Erbgutes ist. Allerdings sagen solche Zahlen und Vergleiche ohnehin wenig, viel wichtiger sind andere Fragen: Wie sehen diese Gene aus, wie haben sie sich entwickelt, wie werden sie gesteuert, sind einige Erbanlagen im Laufe der Entwicklung über Bord gegangen oder vielleicht auch neu hinzugekommen?

Vor allem eine Eigenschaft ist den Forschern rasch aufgefallen: Das Erbgut der Seepferdchen verändert sich offensichtlich schneller als bei anderen Knochenfischen, die Mühlen der Evolution mahlen also rascher. Und das seit der Zeit, als sich die Seepferdchen vor etwas mehr als hundert Millionen Jahren vom Rest der Barsch-Verwandtschaft getrennt und einen eigenen Weg eingeschlagen haben. Im gleichen Zeitraum entwickelten sich zum Beispiel die Säugetiere zu so unterschiedlichen Gruppen wie Elefanten und Mäusen. Kurzum: Die Seepferdchen hatten genug Zeit, Neuerungen zu entwickeln und Überflüssiges loszuwerden.

Den Lebensstil umgemodelt

Diese lange Zeit haben die Seepferdchen dazu genutzt, ihren Lebensstil erheblich umzumodeln. So flitzen viele andere Fische eher flink durchs Wasser. „Seepferdchen sind dagegen sehr sesshaft“, erklärt Axel Meyer. „Statt nach Beute zu jagen, warten sie einfach darauf, dass ein schmackhafter Bissen vorbeikommt“, fasst der Experte für die Evolution von Fischen den Alltag der Unterwasser-Sagengestalten zusammen.

Bei einem solchen ruhigen Lebensstil aber werden die Bauchflossen überflüssig, die bei den geschickten Manövern anderer Knochenfische die Feinsteuerung übernehmen. Für die Entwicklung solcher Bauchflossen scheint wiederum ein Gen namens tbx-4 eine wichtige Rolle zu spielen. Diese Erbanlage aber fehlt in Seepferdchen genauso wie die Bauchflossen.

Gute Tarnung ist lebenswichtig

Statt auf rasante Ausweichmanöver verlassen sich diese Fische lieber auf eine gute Tarnung. Ein Versteck finden sie zum Beispiel im Dickicht von Seegraswiesen, in denen sie häufig leben. Zwischen den nach oben wachsenden Stängeln aber fällt ein herkömmlicher Fischkörper viel eher auf als der nach oben gerichtete Körperbau eines Seepferdchens. Für solche Veränderungen sind häufig Schalter im Erbgut zuständig, die Erbanlagen an- und ausschalten oder deren Aktivität verändern, sie also schneller oder langsamer ablaufen lassen.

Fehlen im Erbgut eines Menschenembryos zum Beispiel solche Schalter für das SHOX-Gen, bleiben die Unterschenkel und Unterarme deutlich kürzer als bei anderen Menschen. Als Erwachsene leiden sie dann ähnlich wie der Zwerg Tyrion Lennister im Fantasy-Werk „Game Of Thrones“ unter Zwergenwuchs und erreichen Körpergrößen von gerade einmal 130 Zentimetern.

Manche Gene fehlen ganz

Im Erbgut der Seepferdchen fehlen nun auffällig viele dieser Schalter. Das aber erklärt den veränderten Körperbau dieser Tiere gut. Mit dem wurmähnlichen Ende können die Fische sich gut an den Stängeln des Seegrases festhalten, der nach oben gestreckte Körper fällt zwischen den ebenfalls nach oben wachsenden Stängeln weniger auf. „Vielleicht werden so ja auch Räuber durcheinandergebracht, deren Beute normalerweise ganz anders aussieht“, überlegt Axel Meyer. Wenn man dann noch wie die Seepferdchen die Schuppen auf der Haut durch wehrhafte Knochenplatten ersetzt, vergeht wohl den meisten Angreifern der Appetit auf diese Beute.

Genau wie bei anderen Tieren von Bartenwalen über Schildkröten bis zu den Vögeln sind bei Seepferdchen bestimmte Gene stark verändert oder fehlen ganz. SCPP (Secretory Calcium-binding Phosphoprotein) werden sie von Molekularbiologen genannt. Sie spielen eine wichtige Rolle beim Bilden von Zahnschmelz. Prompt haben alle Seepferdchen keine Zähne. Stattdessen sind ihre Kiefer zu einer röhrenförmigen Schnauze mit sehr kleinem Maul verwachsen. Das lässt den Kopf nicht nur wie einen Pferdeschädel aussehen, sondern eignet sich auch hervorragend, um effektiv winzige Organismen aufzusaugen, von denen sie sich dann ernähren.

Die Gene machen Männchen zu Ammen

Und noch etwas ist den Forschern aufgefallen: Bei den Knochenfischen spielt eine Genfamilie namens C6AST eine zentrale Rolle bei der Entwicklung des Brutgewebes, in dem sich die befruchteten Eier zu kleinen Fischchen entwickeln. Genau diese Erbanlagen sind bei Seepferdchen gleich doppelt vorhanden und in der Bruttasche der Männchen sehr aktiv. Offenbar werden die Männchen so zu perfekten Ammen. Die Weibchen können ihre Eier in diese Bruttasche ablegen und den Rest von der Befruchtung der Eier über die Schwangerschaft bis zur Geburt des Nachwuchses den Vätern überlassen. Die Geschlechterrollen sind also im Vergleich mit vielen anderen Tieren komplett vertauscht.

Die Seenadeln

Artenvielfalt
Mehr als 300 Arten von Seenadeln sind bisher vor allem in den Weltmeeren, zum Teil aber auch im Brackwasser und seltener im Süßwasser entdeckt worden. Seenadeln gehören zu den Knochenfischen. Sie haben einen lang gestreckten Körper, dem sie auch ihren Namen verdanken. Die bekanntesten Vertreter sind zweifellos die Seepferdchen.

Verbreitung
Bis zu 80 Seepferdchen-Arten sind bislang bekannt. Sie leben in den Meeren der Tropen und der gemäßigten Zonen und kommen auch in Nord- und Ostsee vor. Viel häufiger sind sie dagegen im Pazifik sowie vor den Küsten Australiens. Die kleinsten Vertreter sind nicht einmal eineinhalb Zentimeter lang, die größten sind mit 35 Zentimetern länger als ein Unterarm.

Balz
Beim Liebesspiel haken sich Männchen und Weibchen im Schwanz des Partners ein und tanzen so stundenlang. Erst nach diesem langen Vorspiel legt das Weibchen seine Eier in die Bauchtasche des Männchens, das diese dann mit seinem Sperma befruchtet. Ein spezielles Gewebe umhüllt die wachsenden Fisch-Embryonen, versorgt sie bis zur Geburt mit Sauerstoff und entsorgt das Kohlendioxid, das beim Atmen entsteht.