Viele suchen, verlangen, versprechen Gerechtigkeit. Dieses Schlagwort ist ein Zentralbegriff des politischen Wettbewerbs – eine programmatische Monstranz, häufig ohne Substanz. Denn keiner vermag genau zu sagen, was gerecht ist. StZ-Autor Armin Käfer begibt sich auf die Suche nach einem Phantom.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Der Frage ist kaum auszuweichen. Sie begegnet uns an der Straßenecke, wo eine Frau in zerschlissenen Kleidern mit Kind im Arm um Kleingeld bettelt. Sie spricht aus den Gesichtern der alten Männer, die durch die Stadt ziehen, um Mülleimer zu durchwühlen auf der Suche nach Pfandflaschen, mit denen sie ihre Rente aufbessern können. Sie drängt sich auf, wenn in der Nachbarschaft ein Möbelwagen parkt, weil ein junges Paar ohne Kinder in die schicke Altbauwohnung einzieht, während nebenan Familien in bedrängten Verhältnissen leben. Ist das gerecht?

 

In dieser Frage spiegelt sich ein immerwährendes Unbehagen, eine nie zu stillende Sehnsucht. Doch was ist das eigentlich: Gerechtigkeit? Die Suchmaschine Google spuckt 12,6 Millionen Texte aus, in denen der schillernde Begriff auftaucht. Es gibt wenig andere Worte, für die sich mehr Belege finden. Offenbar erleben wir eine Inflation von Gerechtigkeitsversprechen, Gerechtigkeitsphrasen – und dies schon, bevor der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Martin Schulz auf den Plan trat, um eine „Zeit für Gerechtigkeit“ auszurufen.

Im Grundgesetz ist nur ein einziges Mal von Gerechtigkeit die Rede

Fragt sich bloß, was das heißt. Gerechtigkeit ist ein uralter Menschheitstraum. Schon die Bibel kommt an 85 Stellen darauf zu sprechen. Auf der Homepage der SPD finden sich gar 289 Verweise. Im Wahlprogramm der Linkspartei ist auf 136 Seiten gleich 154-mal davon die Rede. Dabei war einem vermeintlichen Gerechtigkeitsapostel wie Karl Marx das Thema in seinem Kommunistischen Manifest nur eine einzige Erwähnung wert. Im Grundgesetz kommt es ebenso selten vor.

Was ist also gerecht? Schulz hat nach langem Zögern inzwischen ausbuchstabiert, was er darunter versteht: höhere Steuern für leitende Angestellte und knapp 30 Milliarden Euro mehr für Rentner. Das ist gerecht? Darüber lässt sich trefflich streiten. Über Gerechtigkeit wird seit eh und je gestritten. Schon in der Antike waren sich die hervorragendsten Köpfe nicht einig, „welche Art von Mitte die Gerechtigkeit ist“. So hat das Aristoteles in seiner „Nikomachischen Ethik“ formuliert. Es handle sich um den „obersten unter den Vorzügen des Charakters“, urteilte er. Damit befand er sich noch im Einklang mit seinem Kollegen Platon. Für den war Gerechtigkeit eine Frage der inneren Haltung, eine Art Kardinaltugend. Sein Schüler Aristoteles dachte eher in sozialdemokratischen Kategorien. Er suchte mit mathematischer Akribie nach Gerechtigkeit und erfand dafür auch geometrische Skizzen. Sein Fazit: „Das Gerechte ist das Proportionale.“

Ungleichkeit ist nicht immer ungerecht

Dieser Ideenstreit zieht sich durch die komplette Geistesgeschichte. Dabei blieben die Definitionen blumig. Vielleicht lässt sich das Wesen der Gerechtigkeit mit einem Gedankenexperiment fassen, zu dem der Harvard-Professor John Rawles einlädt. Er bedient sich dabei Justitias Augenbinde: Wer nach Gerechtigkeit sucht, benötige dazu den „Schleier des Nichtwissens“, so Rawles. Jeder möge sich Regeln für eine gerechte Gesellschaft ausdenken, ohne zu wissen, welche Rolle ihm in dieser Gesellschaft zugedacht wäre. Mit dieser Versuchsanordnung destilliert er zwei Grundsätze der Gerechtigkeit: Der erste sichert jedem „gleiches Recht auf gleiche Grundfreiheiten“ zu. Im zweiten bündelt sich ein liberales Verständnis von Gerechtigkeit: „Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen“, lautet die Kurzfassung: Ungerechtigkeiten wären dann zu dulden, wenn sie langfristig auch Benachteiligten nutzen.

Das klingt vielleicht wie ein frommer Wunsch – oder wie das Geheimrezept des rheinischen Kapitalismus. Rawles braucht 638 Seiten, um seine „Theorie der Gerechtigkeit“ zu entfalten. Kompliziert ist das auch, weil es nicht eine universelle Gerechtigkeit gibt, sondern viele Facetten davon. Soziologen unterscheiden einen ganzen Katalog von Gerechtigkeiten: von der Bedarfsgerechtigkeit über Chancen-, Generationen-, Leistungs- und Regelgerechtigkeit bis zur Verteilungsgerechtigkeit. In unseren Wahlkämpfen geht es meist um eine Mixtur davon, die unter dem Etikett „soziale Gerechtigkeit“ vermarktet wird.

Viele halten soziale Gerechtigkeit schlicht für eine Fiktion

Dieses Versprechen findet sich in vielen Wahlprogrammen: 73-mal in dem der SPD, aber nur neunmal in dem der FDP. „Teils widersprüchliche, teils einander ergänzende oder voraussetzende Gerechtigkeitskonzepte verschmelzen häufig bis zur Ununterscheidbarkeit“, urteilt der Frankfurter Soziologe Stefan Hradil. Maßgeblich sei „viel eher ein Gefühl als eine exakte Definition“. Gleichwohl handelt es sich bei diesem Schlagwort um eine der meistgebrauchten Vokabeln des politischen Meinungsstreits. Wahlkämpfe ohne „soziale Gerechtigkeit“ sind schlechterdings nicht vorstellbar. Michael Borchard, Politikwissenschaftler bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, sagt: „Nur wenige Begriffe entwickeln eine solche Verheißungskraft, sind als programmatische Monstranz oder polemischer Vorwurf politisch so wirkmächtig und doch bei Lichte betrachtet zugleich so unklar in ihrer Aussagekraft.“

Es gibt Leute, die soziale Gerechtigkeit schlichtweg für eine Fiktion halten: eine Fata Morgana. So nannte es der einst in Freiburg lehrende Ökonom Friedrich August von Hayek. Er bezeichnete diesen Zentralbegriff des politischen Wettbewerbs als „Wieselwort“. Die kleinen, flinken Nagetiere, auf die er anspielt, saugen Vogeleier aus und lassen die leere, nur noch scheinbar intakte Hülle zurück. Um ein ähnliches Phänomen handle es sich auch bei der sozialen Gerechtigkeit, so Hayek. Die meisten Menschen hätten keinen Begriff davon, glaubten aber unverdrossen daran, weil sie der Vorstellung anhingen, „dass etwas daran sein müsse, wenn fast alle anderen daran glaubten“, schrieb der Nobelpreisträger. Die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit entspringe steinzeitlichem Denken, vertrage sich nicht mit den Regeln einer Marktwirtschaft. Hayek vertrat die Ansicht, „dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat“.

Eine Mehrheit glaubt, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht

Solche Sätze wären heute nicht einmal in der FDP noch mehrheitsfähig. Umfragen ergeben ein sehr uneinheitliches Bild vom Gerechtigkeitsempfinden der Bundesbürger. Demnach glauben 68 Prozent, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht. Das haben die Demoskopen des Instituts Allensbach im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung herausgefunden. Unter den Anhängern der Linkspartei sind 76 Prozent von allgemeiner Ungerechtigkeit überzeugt, unter denen der AfD 82 Prozent. Diese Zahlen stammen von Infratest dimap. Der Frankfurter Soziologe Wolfgang Glatzer verweist auf den Umstand, „dass zwischen den von der breiten Bevölkerung gefühlten Lebensverhältnissen und dem, was Medien, Wissenschaftler, Manager und Politiker als Realität definieren, teilweise große Unterschiede bestehen“. Die persönlichen Umstände würden häufig gerechter beurteilt als die gefühlte Lage. „Mir geht es gut – aber diese Gesellschaft ist ungerecht und wird zunehmend ungerechter“, so fasste „Der Spiegel“ eine Allensbach-Umfrage vom September 2016 zusammen. Demnach bewerteten 75 Prozent die eigene Lebensqualität positiv – ungeachtet einer gefühlten pauschalen Ungerechtigkeit.

Führt Gerechtigkeitsarithmetik weiter?

Ist Gerechtigkeit messbar? Jedenfalls wurden schon viele Formeln dafür erfunden: das Atkinson-Maß, der Kakwani-Index oder die Hoover-Zahl. Der bekannteste unter diesen sogenannten Ungleichverteilungsmaßstäben ist der Gini-Koeffizient. Er trägt den Namen des italienischen Statistikers Corrado Gini, der sich das ausgedacht hat. Der Gini-Koeffizient bewegt sich zwischen null und hundert. Läge er bei null, würde das bedeuten, dass Einkommen oder Vermögen exakt gleich verteilt sind. Der andere Extremwert wäre erreicht, wenn ein einziger Mensch alles besitzt. Die Vereinten Nationen beziffern den Gini-Koeffizienten für Deutschland mit 29,16. In Frankreich (28,68) würde es folglich ein bisschen gerechter zugehen, in Norwegen (25,14) und Schweden (24,06) sogar deutlich gerechter. Ein Hort der Ungerechtigkeit ist Lateinamerika, wo diese Kennziffer durchweg über 50 liegt. Eine andere Art von Gerechtigkeitsarithmetik betreibt die Bertelsmann-Stiftung. Ihr Social-Justice-Index für die Europäische Union liegt im Durchschnitt bei 5,75. Schweden rangiert mit 7,51 an der Spitze der Gerechtigkeits-Hitliste. Deutschland bewegt sich mit 6,66 im oberen Mittelfeld. Am ungerechtesten geht es demnach in Bulgarien (4,03), Rumänien (3,91) und Griechenland (3,66) zu.

Taugt der Big Mac als Maßstab der Gerechtigkeit?

Das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ misst Gerechtigkeit in Brötchen und Fleischklopsen. Sie nennt das Ganze den „Big-Mac-Index“. Er gibt an, wie groß die Kaufkraft in Burger umgerechnet ist. Nach diesem Gradmesser erscheinen Sozialleistungen und Löhne weltweit in völlig neuem Licht. Demzufolge herrschen in Deutschland beinahe mustergültige Verhältnisse. Der Mindeststundenlohn hierzulande sei 2,4 Big Macs wert, in den Vereinigten Staaten nur anderthalb, in Russland und Brasilien gerade einmal 0,3.

Gerechtigkeit lässt sich aber nicht in Euro und Cent ummünzen. Sie müsse sich stärker am Grundsatz der Befähigung ausrichten, sagt Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Er nimmt Bezug auf den indischen Philosophen Amartya Sen, der sich wiederum auf die Gerechtigkeitstheorie von Rawles beruft. Gerechtigkeit ist Sen zufolge weniger eine Frage des Lebensstandards als der Verwirklichungschancen. Wer nur auf Verteilungsgerechtigkeit fixiert sei, die sich an materiellen Werten bemesse, unterliege einem wohlfeilen „Warenfetischismus“.

Was ist gerecht an einem Espresso?

Letztlich ist Gerechtigkeit immer eine Frage der Perspektive, der Dimension und der jeweiligen Maßstäbe. Auch dies lässt sich mit Umfrageergebnissen illustrieren. So machen viele die vermeintliche Ungerechtigkeit in Deutschland an der Kluft zwischen aufgeblähten Managergehältern und dem durchschnittlichen Lohnniveau fest. Nur eine Minderheit fände es allerdings gerecht, Mitbürgern mehr Geld zu geben, die von Hartz IV leben. Gerechte Renten zu versprechen war schon immer ein Wahlkampfschlager. Aber ist es denn gerecht, den nachfolgenden Generationen deswegen ungedeckte Schecks zu hinterlassen?

Taugt das Gütesiegel „gerecht“ für ein Steuermodell wie jenes der Marke Martin Schulz, das die Schicht, die ohnehin schon am meisten zahlt, noch stärker zur Kasse bitten will? Ist es gerecht, dass bei uns Zehntausende Lehrstellen unbesetzt bleiben, während in Spanien jeder Zweite unter 25 keinen Job findet? Was verrät es über unser Gerechtigkeitsempfinden, wenn hier sich jedermann einen Espresso in der Mittagspause leisten kann, die Kaffeebauern von den 1,95 Euro, die ein Tässchen bei Starbucks kostet, aber nicht einmal einen Zehntelcent abbekommen? Klamottenläden, in denen es T-Shirts unter zehn Euro gibt, mögen Leuten, die nur Mindestlohn verdienen, wie eine soziale Einrichtung vorkommen. Doch was ist gerecht daran, wenn Näherinnen in Myanmar, die solche T-Shirts herstellen, mit dem deutschen Mindeststundenlohn eine ganze Woche auskommen müssen?