Reportage: Robin Szuttor (szu)

Anton ist 48. Ein zierlicher Mann mit tiefbraunen Samtaugen. Er hat sich gut angezogen für den Termin. Er kam in Tadschikistan nahe der afghanischen Grenze zur Welt. Da lebten fast nur Muslime, "für die waren wir Deutschen immer nur der letzte Dreck". Später zog seine Familie in eine kasachische Kleinstadt nahe Usbekistan, wo er Arbeit als Schweißer in einer Fabrik fand. Mit 27 kam er nach Deutschland, seine älteren Geschwister waren längst da und hatten schon Häuser gebaut mit ihren Familien. "Ich wollte nie weg. Aber meine Eltern bestimmten: wir gehen!"

 

Anton besucht die Gruppe zum ersten Mal. "Ist das hier so ähnlich wie bei den anonymen Alkoholikern?" - "So ähnlich ja, nur dass du hier bei Dorkas Russisch sprechen kannst, auch wenn ich das dann nicht verstehe", antwortet Hemberger.

Dorkas-Gruppen gibt es seit 1996. Und irgendwie teilen sie das Los ihrer Klienten: Sie führen von jeher eine Randexistenz und standen schon oft genug am Scheideweg. Der Dorkas-Vater war ein Baptistenpastor in Berlin-Neukölln, der einen Hauskreis mit jungen, wegen Suchtproblemen kriminell gewordenen Spätaussiedlern ins Leben rief. Doch der gute Mann verlor die Übersicht, korrupte Mitarbeiter brachten seine Arbeit in Verruf. Das änderte sich, als ein Lüdenscheider Psychologe die Selbsthilfegruppen an sein Institut angliederte und zum Teil kommerzialisierte - was bald auch Konflikte nach sich zog.

"...ein städiger Überlebenskampf"

Hemberger ist 64. Mit seinem buschigen Schnauzer, dem gescheitelten Haar und dem prüfenden Blick über die Lesebrille sieht er aus wie Günter Grass. Ohne seine beiden Hörgeräte wäre Hemberger fast taub. Wenn er lacht, verfällt er manchmal in kindliches Glucksen. Er löffelt Aldi-Pulverkaffee in Porzellantassen mit Goldrand und üppigem Rosendekor: "Die sind nicht jedermanns Geschmack", sagt er, "aber meine Klientel findet sie schick und elegant."

Seine Klientel sind Spätaussiedler. Männer, die aus einer Welt kommen, wo Alkoholiker als Abschaum angesehen werden, wo aber, wer täglich eine Flasche Wodka leert, noch lange nicht als Alkoholiker gilt. Einer Welt, wo die Erzählung "Die Reise nach Petuschki" zum Volksgut geworden ist und der Held der Geschichte, der Trinker Venja, ein Denkmal am Moskauer Platz des Kampfes bekommen hat. Auf den Sockel ist ein Zitat aus dem Buch graviert: "Man kann ja schließlich nichts auf die Meinung eines Menschen geben, der noch nicht dazu gekommen ist, sich den Kopf klar zu trinken."

Hemberger vesrteht sie nur zu gut

Zu Hembergers Gruppe kommen Männer, die, wie er sagt, mit einem "latenten Selbstwertproblem" in Deutschland gelandet sind. Die in Russland stets mit Misstrauen beäugt wurden und nicht dazugehörten. Und sich hier gleich in derselben Rolle wiederfinden: als Fremde.

Hembergers Männern fällt es schwer, vor einer Gruppe oder - noch schlimmer - vor jungen Psychologinnen ihr Innerstes nach außen zu kehren. Keiner wäre an diesem Samstag hier, hätte er nicht seinen Führerschein verloren. Und wer sich vor der MPU nicht irgendwie mit der Sache auseinander setzt, kriegt keine Pappe mehr. So viel ist ihnen nach den ersten Versuchen klar. Zu Hemberger haben sie einen Draht. Er versteht sie nur zu gut.

Drei Männer sitzen im Ventilatorenlüftchen. Vassili ist verhindert. Peter im Urlaub. Alexander fehlt auch. Die letzte Sitzung lief nicht so gut. "Ist er beleidigt?" fragt Hemberger. "Nein, ich glaube, er ist wieder normal, vielleicht kommt er nächstes Mal", sagt Edmund.

Der Ort glich einer Geisterstadt

Edmund ist 55. Ein stiller, nachdenklicher Mann aus einem kasachischen Bergarbeitergebiet. Als junger Mann ging er zur Marine nach Murmansk, am Polarmeer wurde er Spezialtaucher, später Mechaniker. Als er mit 45 nach Deutschland kam, brachte er die Liebe zum Wodka mit. "Beim Militär hat man viel getrunken", sagt er.

Neben ihm sitzt Viktor. Er ist 56, trägt Sandalen über dunkelblauen Socken, eine Trainingshose aus Ballonseide und ein T-Shirt mit aufgedrucktem Hammerhai. Viktor hat einen stattlichen Bauch, einen kantigen Schädel mit dichtem Grauhaar und ein Lachen, das ein paar Goldzähne und die ganze Herzenswärme von Mütterchen Russland offenbart.

Er stammt aus einem Dorf im Ural. 300 Einwohner, außer einer Handvoll Russen und Kasachen alles Deutschstämmige. Dort hatte er eine Frau, vier Kinder, vier Kühe, sechs Schweine, zehn Schafe und Federvieh. Die nächste Stadt lag 60 Kilometer entfernt. Über den Winter war die Straße zugeschneit, im Sommer kam einmal die Woche, wenn der Fahrer nichts Besseres vorhatte, ein Bus vorbei. Manchmal fuhr Viktor mit seiner Familie in die Stadt, um auf dem Flohmarkt Kleider zu kaufen. Irgendwann begann im Dorf der Exodus nach Deutschland, am Ende glich der Ort einer Geisterstadt. 1996 ging er auch. Seine Familie wollte weg. Er nicht. "Deutschland ist nicht mein Vaterland", sagt er. "Mein Vaterland ist, wo mein Vater geboren ist."

Die anonymen Alkoholiker auf Russisch

Anton ist 48. Ein zierlicher Mann mit tiefbraunen Samtaugen. Er hat sich gut angezogen für den Termin. Er kam in Tadschikistan nahe der afghanischen Grenze zur Welt. Da lebten fast nur Muslime, "für die waren wir Deutschen immer nur der letzte Dreck". Später zog seine Familie in eine kasachische Kleinstadt nahe Usbekistan, wo er Arbeit als Schweißer in einer Fabrik fand. Mit 27 kam er nach Deutschland, seine älteren Geschwister waren längst da und hatten schon Häuser gebaut mit ihren Familien. "Ich wollte nie weg. Aber meine Eltern bestimmten: wir gehen!"

Anton besucht die Gruppe zum ersten Mal. "Ist das hier so ähnlich wie bei den anonymen Alkoholikern?" - "So ähnlich ja, nur dass du hier bei Dorkas Russisch sprechen kannst, auch wenn ich das dann nicht verstehe", antwortet Hemberger.

Dorkas-Gruppen gibt es seit 1996. Und irgendwie teilen sie das Los ihrer Klienten: Sie führen von jeher eine Randexistenz und standen schon oft genug am Scheideweg. Der Dorkas-Vater war ein Baptistenpastor in Berlin-Neukölln, der einen Hauskreis mit jungen, wegen Suchtproblemen kriminell gewordenen Spätaussiedlern ins Leben rief. Doch der gute Mann verlor die Übersicht, korrupte Mitarbeiter brachten seine Arbeit in Verruf. Das änderte sich, als ein Lüdenscheider Psychologe die Selbsthilfegruppen an sein Institut angliederte und zum Teil kommerzialisierte - was bald auch Konflikte nach sich zog.

"...ein städiger Überlebenskampf"

Vor zehn Jahren machte Michael Hemberger, begleitet von internen Streitigkeiten und chronischen Finanznöten, Dorkas zu einem autonomen, gemeinnützigen Verein. Die Nachmittage in der Selbsthilfegruppe kosten nichts. Bescheinigungen werden keine ausgestellt, die Männer sollen nicht wegen eines Zettels kommen.

"Es ist ein ständiger Überlebenskampf, wir haben jetzt bundesweit etwa zwölf Gruppen" - ganz genau kann das nicht mal der Vorsitzende Hemberger sagen. Solange er noch nicht ganz taub ist, macht er weiter. Er mag die Menschen, die zu ihm kommen, das spürt man. "Das sind faszinierende Lebensläufe und unglaubliche Geschichten - deutsche Geschichten." Er ist zwar Hesse, unüberhörbar. Trotzdem gehört er auch dazu. Als trockener Trinker.

Sein Alkoholproblem ist ein Mutterproblem. Mit 15 flüchtete er von ihr und heuerte in Hamburg auf einem Stückgutfrachter an. Fünf Jahre See. Quebec, Pittsburgh, Rio, Montevideo, der blauschwarze Atlantik, nachts unter dem leuchtenden Kreuz des Südens, Billionen von Sternen, in deren Widerschein der Schiffspropeller eine phosphorgrüne Spur im Ozean hinterließ. Das war seine Welt. Dazwischen immer wieder Besuche bei der Mutter. Und die Enttäuschung, dass sich am Konflikt nichts geändert hatte. "Wie auch, wir arbeiteten ja nicht an unserem Problem. Dazu musste ich erst Sozialpädagoge werden", sagt er.

Ein ausgefülltest Leben

Als er 1979 beim Göppinger Jugendamt anfing, hatte er schon "einen guten Zug". Bald lag er im Dauerclinch mit dem Landrat, er sieht sich rückblickend gern als Michael Kohlhaas der Kreisverwaltung. 17Jahre ist es her, dass er sich endlich eingestand, süchtig zu sein. "Bei den anonymen Alkoholikern bin ich neu geboren worden", sagt er. Er hat eine handbemalte russische Matrioschka auf seinem Bürotisch stehen. Als Symbol der vielen in sich verschachtelten Probleme eines Trinkers. Manchmal kann auch ein bisschen Folklore durchaus hilfreich sein.

"Bei mir war es das Heimweh und die Langeweile", sagt Viktor. In Russland begann er frühmorgens, wenn die Sonne über die Berggipfel blinzelte, mit der Arbeit in der Kolchose. Wenn sie abends wieder unterging, arbeitete er immer noch - im Stall bei seinen eigenen Tieren. Vor dem Schlafengehen trank er zwei, drei Gläschen Wodka. Ein ausgefülltes Leben.

In Baden-Württemberg kam er nach sieben Stunden Fabrikarbeit nach Hause, setzte sich auf den gepflegten Balkon mit den Geranienkästen und wusste nicht, was tun. "Dann hab ich mich mit anderen getroffen, denen ging es auch so wie mir. Nach ein paar Gläschen Wodka konnte man sich richtig gut ausreden, und es wurde wärmer in einem und leichter, und am nächsten Abend ging man dann wieder hin."

"Es ist ein ganz anderes Leben hier."

Edmund fand sich auch nicht zurecht. "Es ist ein ganz anderes Leben hier. Alles geregelt. Wer die Gesetze nicht kennt, ist hilflos und wird von einer Stelle zur nächsten geschickt. Sobald ein Chef hört, dass ich nicht gut Deutsch spreche, kann ich wieder gehen. Was soll man seinen Kindern sagen ohne Arbeit? Sie wollen ja auch Computerspiele machen. Sie sollen gut aufwachsen und nicht zu Dieben werden."

"Auch andere haben Druck", sagt Hemberger, "auch andere fühlen sich fremd und allein und werden herumgeschubst - saufen aber trotzdem nicht. Warum seid ihr Trinker geworden?" Draußen startet der Regionalexpress pünktlich in Richtung Ulm. Und in dem kleinen Büro bei Gleis eins surren leise die Ventilatoren.