Brisante Post bekam Stefan Mappus im Herbst 2010 von Bahnchef Grube: das „Handbuch für alle Krawalle“ um Stuttgart 21, eine von einem Grünen mitverfasste Protestfibel.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Nein, lässt Jürgen Großmann ausrichten, zu Stuttgart 21 werde er nichts sagen. Wie er das Bahnprojekt bisher beurteilt hat, wie er es im Licht der jüngsten Kostenexplosion sieht – dazu gibt der frühere Chef des Energiekonzerns RWE und Gesellschafter des Stahlunternehmens Georgsmarienhütte (GMH) keine Auskunft. Seine Sprecherin bittet um Verständnis, dass er sich „als Mitglied des Aufsichtsrates der Deutschen Bahn grundsätzlich nicht zu Fragen des zu beaufsichtigenden Unternehmens äußert“ – schon gar nicht vor der entscheidenden Sitzung des Kontrollgremiums am nächsten Dienstag. Auch zu der Geschäftsbeziehung zwischen der Bahn und seiner GMH-Gruppe, die einen eigenen Bereich für Bahntechnik unterhält, gibt es keine näheren Erläuterungen: Diese sei „dem DB-Aufsichtsrat bekannt und ist auch veröffentlicht“.

 

So schweigsam war Großmann nicht immer. Noch vor gut zwei Jahren war ihm wichtig zu betonen, dass er sich öffentlich für den Tiefbahnhof einsetze. „Nicht nur als Mitglied des Aufsichtsrates der Deutschen Bahn, sondern auch als Privatmann und Unternehmer bestätige ich Ihnen daher gern, dass ich das Projekt Stuttgart 21 nicht nur unterstütze, sondern in vielen Vorträgen und in meinem persönlichen Umfeld dafür werbe“, schrieb er im Herbst 2010 an den damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU). Die Diskussion im Südwesten komme ihm „sehr bekannt vor“, klagte er in dem Brief: Zu der „big-is-bad“-Haltung, die RWE als Kraftwerksbauer häufig erlebe, komme mehr und mehr eine „new-is-bad“-Haltung hinzu; beides sei abzulehnen, weil „vergangenheitsbezogen“. „Wir müssen aber die Zukunft gestalten, für moderne Arbeitsplätze und für eine Anpassung unserer Industrie an eine globalisierte Welt“, bestärkte er den „lieben Herrn Mappus“.

Akteneinsicht für einen findigen Ex-Richter

Bekannt wurden dieses und andere Schreiben durch eine Akteneinsicht der ganz besonderen Art. Noch gibt es in Baden-Württemberg zwar kein umfassendes Transparenzgesetz, das Bürgern wie in anderen Bundesländern Einblick in Verwaltungsvorgänge erlaubt, aber der Zugang zu Umweltinformationen ist seit Jahren gesetzlich geregelt. Auf diese wenig bekannte Möglichkeit besannen sich der pensionierte Richter Dieter Reicherter und ein juristisch versierter Mitstreiter. Beim Staatsministerium von Winfried Kretschmann (Grüne) beantragten sie, alle Dokumente im Zusammenhang mit den Baumfällungen im Oktober 2010 im Schlossgarten einsehen zu dürfen. So hofften sie Informationen rund um den Polizeieinsatz am 30. September zu bekommen, der Reicherter als Augenzeugen zutiefst empört hat.

Besonders interessiert war er an den Sicherungskopien von Mappus-Mails aus jener Zeit, um die derzeit vor Gericht gerungen wird. In diesen und etlichen anderen Punkten – etwa, was regierungsinterne Dokumente zum Untersuchungsausschuss zum „schwarzen Donnerstag“ angeht – wurde der Antrag zwar abgelehnt. „Im Übrigen wird Akteneinsicht gewährt“, beschied ihn die Staatskanzlei. Also machten sich Reicherter und sein Kompagnon auf den Weg in die Villa Reitzenstein, um den „Rest“ zu sichten – und staunten nicht schlecht über dessen Umfang: Tausende von Aktenseiten aus dem Herbst 2010 hatten die Beamten für sie durchgesehen und bereitgestellt; Dokumente, die schutzbedürftige Interessen berührten, waren aussortiert. Volle vier Tage benötigten die Rechercheure, um sich durch den Berg an Unterlagen zu wühlen und etliche Hundert Papiere abzulichten.

Grube weist Mappus auf Grünen-Politiker hin

Die Auswertung wird lange dauern, doch schon die erste Durchsicht gab bemerkenswerte Einblicke in die Zeit nach dem 30. September. Da fand sich etwa ein Schreiben des Bahn-Chefs Rüdiger Grube, der dem Ministerpräsidenten „wie telefonisch besprochen“ eine „Anleitung zum Protest“ übersandte. Sie stamme von Andreas B., einem (damaligen) Stuttgarter Bezirksbeirat der Grünen und Mitarbeiter einer Europaabgeordneten; beigefügt war ein im Internet recherchierter Lebenslauf. „Es lohnt sich, die Unterlage zu lesen, denn sie scheint das Handbuch für alle Krawalle zu sein“, empfahl der Bahn-Chef dem „lieben Herrn Mappus“.

Tatsächlich war der Zweck des 80-Seiten-Opus (Titel: „Proben für den großen Krach“) schon auf dem Deckblatt angegeben: Es handele sich um ein „Handbuch zur studentischen Protestorganisation“ aus dem Jahr 2005. Mit Stuttgart 21 habe es nichts zu tun, sagt Andreas B., der einst als Studierendenvertreter daran mitwirkte – und sich heute über die Recherchen des Bahn-Chefs wundert. Grube habe die Unterlagen von dem Calwer Unternehmer und Projektbefürworter Wolfgang Kömpf erhalten, erläutert ein Bahn-Sprecher. Das Schreiben an Mappus sei „als sicherheitsrelevanter Hinweis“ zu verstehen gewesen. Nie, so versichert der Sprecher, habe die Bahn Nachforschungen über Demonstranten angestellt. Auch mit einer merkwürdigen Begegnung aus jener Zeit habe sie nichts zu tun: Unter einem Vorwand wurde Andreas  B. damals von einem Unbekannten zu einem Gespräch in ein Hotel gebeten und über seine Haltung zum Stuttgarter Bahnprojekt ausgefragt. Der Baustoffunternehmer Kömpf bestätigt, er habe das Handbuch auf Facebook entdeckt und Grube bei einem Vortrag übergeben – „als Hinweis, was da blühen konnte“.

Der Ehemann einer Richterin feuert Mappus an

Andere Schreiben zeigen, wie Mappus damals geradezu angefeuert wurde. Er verfolge „mit Freude Ihre klare Haltung“ im Konflikt um Stuttgart 21, schrieb ihm ein Rechtsanwalt zwei Wochen nach dem Polizeieinsatz. „Seien Sie versichert, dass Sie zahlreiche Bürger auf Ihrer Seite haben.“ Aus den Terroristenprozessen wisse er „um die Situation einer Gefährdung der eigenen Sicherheit und der partiellen öffentlichen Anfeindung“, fuhr er fort. „Umso mehr ziehe ich den Hut vor Ihrer couragierten Haltung und hoffe und wünsche sehr, dass Sie sich (und uns) diese bewahren und sich vom Getöse der Straße nicht beirren lassen.“ Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung habe „keine Zeit zu demonstrieren“, stehe aber hinter dem Projekt.

Im Briefkopf war auch die Ehefrau des Anwaltes mit aufgeführt, der ausdrücklich von der Haltung „meiner Familie“ schrieb. Pikant daran: es handelt sich um eine Richterin am Stuttgarter Amtsgericht, die mehrfach durch harte Urteile gegen Projektgegner aufgefallen ist. Als „skandalös“ werteten diese etwa den Spruch gegen einen „Parkschützer“, der wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte eine Geldstrafe erhielt – weil er im Schlossgarten seinen Arm einbetoniert hatte. Auch das falle unter den Gewaltbegriff, entschied die Richterin. Wäre das Schreiben an Mappus damals bekannt gewesen, hätte sich wohl die Frage der Befangenheit gestellt. Die Richterin habe bis zu der StZ-Anfrage keine Kenntnis von der Korrespondenz gehabt, teilte der Vizepräsident des Amtsgerichts, Till Jakob, in ihrem Auftrag mit – obwohl das Dankesschreiben im Auftrag von Mappus ausdrücklich auch an sie gerichtet war. Ihr Mann bestätigte, dass sie die Briefe nicht gekannt habe. Bei künftigen Verfahren, so Jakob, werde eine Befangenheit möglicherweise zu prüfen sein.

Anwalt warnte vor unberechenbarem Geißler

Ein anderer Anwalt wandte sich ebenfalls als besorgter Projektbefürworter an Mappus. Auf dem offiziellen Briefpapier seiner Kanzlei – der durch den EnBW-Deal bekannt gewordenen Sozietät Gleiss Lutz – informierte er ihn und die Umweltministerin Tanja Gönner „persönlich/vertraulich“ über die Gefahr, die vom Schlichter Heiner Geißler ausgehe. Am Rande einer Veranstaltung im Neuen Schloss habe ihm ein Teilnehmer der „Anne Will“-Talkshow „nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit“ Bedenkliches über Geißler berichtet.

Nach der Sendung solle dieser sich „dahingehend geäußert haben, dass nur Kapitalisten Geschäfte machen wollten und vieles gegen das Projekt spreche“. „Das lässt Schlimmes befürchten“, warnte der auf seinem Arbeitsgebiet renommierte Advokat. Wenn Geißler nach der Schlichtung „nicht an sich halten kann“, erhielten die Gegner „enormen Auftrieb“. Eigentlich, empfahl er Mappus, müsste der CDU-Senior „wegen Befangenheit abgelehnt werden“. Aber dafür dürfte es „wohl zu spät sein“.