Das Vertriebenen-schicksal Anna Ondratscheks ist nach wie vor Thema in ihrer Familie. Doch die Heimat ist für die 91-Jährige aus Mähren-Schlesien wie für ihre Kinder und Enkel inzwischen ganz klar Waiblingen

Waiblingen - Anna Ondratscheks Familie war eine der letzten, die im Oktober 1946 Buchsdorf in Mähren-Schlesien den Rücken kehrte, kehren musste. „Wir wären niemals von daheim weggegangen, wenn man uns nicht vertrieben hätte“, erzählt die heute 91-Jährige. Bis die Ernte eingebracht gewesen sei, hätten die Tschechen ihre Familie, die für einen Gutshof arbeitete, noch da behalten. Dann musste auch sie in einen der Viehwaggons steigen, welche die deutsche Bevölkerung in das vom Zweiten Weltkrieg völlig zerrüttete Deutsche Reich brachten. „Wir hatten gehofft, dass wir wenigstens noch den Winter über bleiben dürfen“, sagt Anna Ondratschek, geborene Hauke, der es auch Jahrzehnte danach schwer fällt, auf das Erlebte zurückzublicken.

 

Erste Unterkunft in den Remsbaracken

Mit 70 Kilogramm Gepäck pro Person – mehr durfte nicht mitgenommen werden – kam sie zusammen mit ihren Eltern und fünf Geschwistern zunächst im badischen Neckarzimmern in einem Sammellager an. Dort wurden sie nach mehreren Wochen dem Weitertransport nach Waiblingen zugewiesen. Auch hier wurden die Haukes in Massenlagern untergebracht, erst in den sogenannten Remsbaracken auf dem heutigen Gewog-Gelände, dann im Saal des Gasthofs Adler und schließlich, Anfang 1947, in den Wasenbaracken am Waldmühlweg, wo nun der Waiblinger Reitverein ist. Immer begleitet von Hunger und Kälte. „Es war ein schrecklicher Winter. Die Rems war zugefroren und die Menschen sind darauf Schlittschuh gelaufen“, berichtet Anna Ondratschek. Auch um satt zu werden hätten sie alles versucht, selbst aus Kartoffelschalen Essen gekocht.

Von der Not zum Wohlstand

Nun sitzt sie mit ihrem Sohn Dieter und ihren beiden Enkeln Jan und Kai in der beheizten Stube ihrer Waiblinger Wohnung. Auf dem Couchtisch stehen Knabbersachen. Not und Hunger kennt keiner der drei Nachkommen mehr. „Wir müssen eher versuchen, den Standard zu halten“, sagen Jan und Kai. Die 32 und 28 Jahre alten Männer haben beide Technologiemanagement an der Universität Stuttgart studiert und arbeiten nun als Ingenieure für den Elektrowerkzeugehersteller Bosch beziehungsweise den Motorsägenbauer Stihl. Ihr Vater indes hat als Kind noch einen gewissen Mangel zu spüren bekommen. „Manchmal konnte ich ihm nicht mal eine Brezel kaufen“, erzählt Anna Ondratschek. „Ich habe schon gemerkt, dass wir nicht so gut situiert waren“, sagt auch er offen.

Die erste eigene Wohnung für die Familie

An die Zeit im Barackenlager hat Dieter Ondratschek, 1949 geboren, keine Erinnerungen. Nach der Heirat seiner Eltern – sein Vater Albert Ondratschek war im September 1947 aus englischer Kriegsgefangenschaft nach Waiblingen nachgekommen – und seiner Geburt, setzte sich das damalige Wohnungsamt dafür ein, dass die junge Familie Ende 1950 in eine eigene Wohnung ziehen konnte. „Wir waren sehr glücklich über unsere Zweizimmerwohnung, obwohl wir anfangs nichts zum Reinstellen hatten“, erinnert sich seine Mutter.

Die Familie lebte bürgerlich. Anna Ondratschek kümmerte sich um Dieter und die beiden ein paar Jahre später geborenen Töchter, während ihr Mann Albert als kaufmännischer Angestellter den Lebensunterhalt verdiente. „Daheim wurde schlesisch gesprochen, draußen auf der Gasse kam das Schwäbische hinzu“, erzählt Dieter Ondratschek, der sich als Kind Vertriebener nie ausgegrenzt gefühlt hat. In der Volksschule habe er dieselben Chancen gehabt, später dann das Gymnasium besucht, studiert und als Leiter der Abteilung für Lackiertechnik am Fraunhofer-Institut Karriere gemacht.

Dass all seine Freunde ebenfalls Kinder Vertriebener waren, wie auch seine Frau Beate, sei wohl eher Zufall, meint er. Es seien eben gerade jene Familien gewesen, welche in die, um den dringend benötigten Wohnraum zu schaffen, neugebauten Häuser an der Beinsteiner Straße gezogen sind. Und an der Karolingerschule seien die Klassen nun einmal nach Konfession getrennt gewesen. „In der katholischen Klasse waren deswegen fast zwangsläufig fast nur Kinder von Heimatvertriebenen.“

Auf die Herkunft des Nachnamens angesprochen

Gleichwohl sei es ihm immer bewusst gewesen, dass seine Wurzeln nicht im Schwäbischen liegen. „Wenn man sich im Schoß der Familie mit den Tanten und Onkeln getroffen hat, wurde immer viel über die Heimat gesprochen.“ Auch seine Söhne Jan und Kai kennen diese Erzählungen der Älteren bei Familienfesten noch. „Und man bekommt unterbewusst den Stolz von ihnen mit, dass man sich etwas aufgebaut hat“, sagt Jan Ondratschek. Zudem würden sie immer wieder auf die Herkunft ihres Nachnamens angesprochen. Als Makel empfinden sie dies aber nicht, sondern als „positiv identifizierend“, meinen die beiden übereinstimmend.

Doch die Heimat ist für sie wie für ihren Vater ganz klar Waiblingen. Auch die Großmutter fühlt sich inzwischen im Remstal zu Hause. „Buchsdorf ist nur noch in meiner Erinnerung meine Heimat“, sagt Anna Ondratschek. Denn das, was sie bei einem Besuch in der Ortschaft 1966 gesehen habe, sei ihr völlig fremd vorgekommen. Die heruntergekommenem Gebäude, in denen Menschen in ärmlichen Verhältnissen lebten, das sei nicht mehr ihr Buchsdorf gewesen. „Ich habe zwar manches aus Erzählungen dort wieder erkannt, aber es hat mir nichts bedeutet, ich habe es nicht als Heimat empfunden“, meint Dieter Ondratschek, der damals 17 Jahre alt war.

Der Opa spricht am Empfang fließend Tschechisch

Besuch der alten Heimat

Bei einem zweiten Besuch der Familie 1994 lernten dann auch die Enkel die alte Heimat kennen. Im Gedächtnis haften geblieben sind ihnen vor allem zwei Erlebnisse mit ihren Großvätern väterlicher- und mütterlicherseits. „Ich sehe meinen Opa Josef noch heute, wie er mit Tränen in den Augen vor einer Koppel stand“, erzählt Jan, während seinem jüngeren Brüder die Ankunft im Hotel besonders in Erinnerung geblieben ist. „Am Empfang hat Opa Albert plötzlich fließend Tschechisch gesprochen, als wenn sich das in ihm aufgestaut hätte“, berichtet Kai, „schade, dass wir die Sprache nicht mehr gelernt haben.“ Sein Vater, der ebenfalls kein Tschechisch kann, stimmt ihm zu: „Aber die Sprache in der damaligen Zeit weiterzugeben wäre einfach ein Unding gewesen“, sagt er und Anna Ondratschek nickt stumm dazu.