Der Wandel der afroamerikanischen Identität spiegelt sich in gesellschaftspolitischen Debatten und Kunstformen wie Literatur, Kino oder Popmusik wieder. Heute: Was heißt eigentlich afroamerikanische Identität?

Stuttgart - Würde man weiße Amerikaner beim Einkaufsbummel in einer Shopping Mall nach weiterhin quicklebendigen amerikanischen Traditionen fragen, bekäme man wohl folgende Antworten: Truthahnessen zum Erntedankfest, Feuerwerk zum Unabhängigkeitstag, die Kinderkostümierung zu Halloween. Der afroamerikanische Journalist Ta-Nehisi Coates jedoch hat im vergangenen Jahr ganz anderes zur aktiv gepflegten Tradition erklärt: die Zerstörung schwarzer Körper. In seinem mit dem National Book Award ausgezeichneten Essay „Between the World and me“, als „Zwischen mir und der Welt“ bei Hanser Berlin auch auf Deutsch erschienen, zieht er eine direkte Linie zwischen der systematischen Gewalt gegen Schwarze in der Epoche der Sklaverei und den tödlich eskalierenden Konfrontationen von Polizeibeamten und afroamerikanischen Bürgern unserer Tage.

 

Die Grausamkeit einst, schreibt Coates, sei geplant und folgerichtig gewesen: „Nur die Anwendung von Kutscherpeitschen, Eisenzangen, Schürhaken, Handsägen, Steinen, Briefbeschwerern oder was immer sonst gerade zur Hand gewesen sein mag, vermochte den schwarzen Körper zu zerstören, die schwarze Familie, die schwarze Gemeinschaft, die schwarze Nation.“ Diese Schinderei sieht er noch immer am Werk. Afroamerikaner seien kein vollwertiger Teil der amerikanischen Gesellschaft, sondern das, wogegen sich diese Gesellschaft abgrenze, die zum Scheitern Gebrachten, die den anderen ein Grundgefühl des Erfolges und der Teilhabe am Aufstiegstraum ermöglichten: ein Oben sei schließlich kein Oben, wenn es kein Unten gebe.

„Zwischen mir und der Welt“ ist ein bitteres, wütendes Werk. Es gab Zeiten, da hätten es viele arrivierte Afroamerikaner als ein wenig vorgestrig empfunden. Nun ist es als wichtige afroamerikanische Standortbestimmungen gepriesen worden, und nicht nur die Literaturpreisträgerin Toni Morrison hat es als Pflichtlektüre bezeichnet. Es ist zugleich der erweiternde Grundsatztext der Bewegung „Black Lives Matter“ und ein einziger Zweifel, ob deren friedliche Proteste eine zum Grundgewebe der Gesellschaft gehörende Ungleichheit beenden können.

Das Trauma der Sklaverei wirkt nach

Ob man Coates’ Thesen folgen mag oder nicht, eines kann man kaum verleugnen: Die afroamerikanische USA-Erfahrung ist eine radikal andere als die anderer Ethnien im vorgeblichen Schmelzkessel. Egal, wie schlimm politische Unterdrückung, religiöse Verfolgung oder Hungersnöte in Europa und anderswo gewesen sein mögen: letztlich gingen die Auswanderer freiwillig, in der Hoffnung auf mehr Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Vorfahren der Afroamerikaner aber kamen in Ketten übers Meer, als Verschleppte, und Amerika bedeutete für sie das Ende der Freiheit. Ihnen wurde sogar das Menschsein abgesprochen.

Nicht wenige Soziologen erklären afroamerikanische Probleme von heute aus dem Trauma der Sklaverei. Die hohe Alleinerziehungsrate junger Mütter etwa, die massenhafte Bindungsverweigerung durch die Väter wäre demnach die Fortsetzung einer alten Entfesselung. Sklaven waren einst auf ihre Plantagen gebannt. Mit dem Ende der Sklaverei wurde ruhelose Bewegung zum oft einzig möglichen Ausdruck der neuen Freiheit. Wer am Ort blieb, endete als Sharecropper, als chancenloser Landpächter, dem harte Arbeit in einem unfairen System immer tiefere Verschuldung brachte. Heraus aus dem Süden der Rassentrennung zu pilgern, auf in die Städte des Nordens, und dann wieder in diesen Städten von Job zu Job und Unterkunft zu Unterkunft zu hüpfen, das waren männliche Freiheitsaufbrüche, die nun angeblich als Absetzbewegung von familiärer Verantwortung nachgeistern.

Das mag manchem als groteske Überschätzung des Nachlebens individueller Erfahrungen in künftigen Generationen erscheinen. Aber gerade die afroamerikanische Kulturgeschichte bezeugt ja das unglaublich zähe Weiterleben des vermeintlich Flüchtigen. Die in die USA Verschleppten wurden einst aus verschiedenen Regionen Afrikas in Transportschiffe zusammengepfercht und auf den Sklavenmärkten der Südstaaten noch einmal neu vermischt. Sie brachten ganz unterschiedliche Kulturen und Sprachen mit. So schwierig es sowieso gewesen sein mag, Verständigung aufzunehmen und Gemeinsames zu finden, so entschieden versuchten die Südstaatler, afrikanisches Erbe ganz auszulöschen.

In Identität und Kultur hat sich Afrikanisches gemischt

Sprachen und Gebräuche wurden verboten, aber auch Musikinstrumente. Der bei Touristen beliebte Congo Square in New Orleans, wo Sklaven an ihrem freien Sonntag trommeln und tanzen durften, war die Ausnahme, nicht die Regel. Englisch sollte die einzige Sprache der Sklaven werden, beigebracht in einer Form, die Selbstwertgefühl zerstörte und Unterwerfung pries.Diesem Zweck diente auch die Variante des christlichen Glaubens, die man den Plantagenarbeitern aufzwang.

Trotzdem mischte sich in jene Identität und Kultur, die sich da formte, Afrikanisches. Nicht nur die fremden Notenskalen von Blues und Jazz zeugen davon. Durch afrikanische Erzählwerke, ja, durch die schwarze Popkultur windet sich etwa die Figur des Tricksters, des zugleich bösen und guten Täuschers, der auf afrikanische Wurzeln zurückgeht und auf den Papa Legba des Voodoo-Pantheons.

Immer entbrannte allerdings auch Streit um solche Deutungen. Die afroamerikanische Identität ist eine konfliktgeladener Ungewissheit. Jeder vermeintlich stärkenden Idee wird vorgehalten, sie sei eine schwächende im Dienste weißer Perfidie. Wer etwa die afrikanischen Anteile von Jazz und Blues betont, muss sich anhören, er verleugne die genuine Erfindungskraft der Afroamerikaner, arbeite also an dem Bild, Amerikas Schwarze besäßen nur Schwundkulturreste des einst intakten Afrikanischen. Wer aber Jazz und Blues zu genuin amerikanischen Erfindungen macht, dem wird von anderen vorgeworfen, er kappe die Verbindung zu Afrika, er helfe, die Verschleppungsgeschichte zu verdrängen.

Opfer zu sein prägt das Lebensgefühl

Der erste große Planer einer schwarzen Selbstermächtigungsstrategie, der noch in der Sklaverei geborene Booker T. Washington (1856-1915), plädierte für eine Art Apartheid, für getrennte Institutionen und eine getrennte Ökonomie, damit eine ressourcenlos startende schwarze Gemeinschaft sich frei vom verheerenden weißen Konkurrenzdruck entwickeln könne. Der schwarze Historiker, Ökonom und Autor W. E. B. Du Bois (1868-1963) wurde Washingtons entschiedener Gegenspieler. Er forderte die völlige Gleichberechtigung und Integration und wurde Mitbegründer der noch heute aktiven National Association for the Advancement of Colored People (NAACP).

Die Aufrufe von Martin Luther King zum gewaltfreien Widerstand und von Malcolm X und den anderen Black Panthers zur entschlossenen Gegengewalt sind nur eines der Gegensatzpaare schwarzer Geschichte. Fünfzehn Jahre vor Ta-Nehisi Coates’ „Zwischen mir und der Welt“ hatte der afroamerikanische Journalist John McWhorter mit seinem Buch „Losing the Race: Self-Sabotage in Black America“ für heftige Debatten gesorgt. Mit der Erklärung aktueller Übel aus der Sklaverei heraus, mit der Haftbarmachung der Weißen für alle schwarzen Probleme müsse endlich Schluss sein. Drogen und Kriminalität seien hausgemachte Probleme der schwarzen Gemeinschaft die endlich selbst Ordnung bei sich schaffen müsse.

Im Jahr 2016 ist das keine Position, die mehr viel Gehör findet. Das Drogenproblem sieht Coates als Teil der Ausbeutung der Schwarzen durch die Weißen, die massenhafte Inhaftierung von Afroamerikanern sei längst ein profitabler Wirtschaftszweig geworden. Auch wenn es einige spektakulär erfolgreiche schwarze Aufsteiger im Showgeschäft gibt, Opfer permanenten Betrugs und dauernder Demütigung zu sein, ist das verbreitete afroamerikanische Lebensgefühl.