Hat die aktuelle Fußball-Nationalmannschaft in der Nachfolge des WM-Teams von 2014 das Zeug dazu, ein großes deutsches Team zu werden? Es wird schwer, noch einen draufzusetzen – aber sie werden es zumindest probieren.

Stuttgart - In der Nacht vom 23. auf 24. Juni 2004 sitzt Gerhard Mayer-Vorfelder auf der Terrasse des Ria Park Garden Hotel in Almancil und denkt nach. Ein paar Stunden vorher ist die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußball-Europameisterschaft in Portugal einer tschechischen B-Elf mit 1:2 unterlegen und auf klägliche Weise schon nach der Vorrunde ausgeschieden. Ein paar Stunden später wird Teamchef Rudi Völler früh am Morgen mit seinem Rücktritt die Verantwortung für das Scheitern übernehmen („Man muss sich auch mal an die eigene Mütze fassen“).

 

Rasch wird sich das Hotel anschließend leeren, Spieler und Trainer flüchten zurück in die Heimat, bloß weg vom Ort der großen Schmach. Nur Gerhard Mayer-Vorfelder, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), bleibt noch tagelang auf seinem weißen Plastikstuhl sitzen. Und beschließt, dass es so nicht weitergehen kann.

Was Sie alles zur EM wissen müssen

In jener Nacht, als der deutsche Fußball am Tiefpunkt angelangt ist, schlägt die Geburtsstunde der wahrscheinlich besten deutschen Nationalelf aller Zeiten. Dass sie zehn Jahre später in Brasilien den Weltmeistertitel gewinnt und nun als „La Mannschaft“ zu den großen Favoriten bei der EM in Frankreich gehört – das hat in doppelter Hinsicht mit Gerhard Mayer-Vorfelder zu tun, dem am 17. August vergangenen Jahres verstorbenen Fußballfunktionär aus Stuttgart.

Einerseits ist es schon vier Jahre vor dem EM-Aus 2004 der DFB-Präsident gewesen, der den deutschen Fußball mit einem Talentförderprogramm in die Moderne geführt hat. Bastian Schweinsteiger, Lukas Podolski und Philipp Lahm, die in Portugal ihr erstes Turnier bestreiten, sind die Vorboten der goldenen deutschen Generation. Und Mayer-Vorfelder ist es andererseits auch, der am Ende seiner Überlegungen den streitbaren Jürgen Klinsmann gegen viele Widerstände zum Nachfolger des allseits beliebten Rudi Völler ernennt.

Fußballrevolution mit Klinsmann

Mit Klinsmann beginnt sie, die deutsche Fußballrevolution, die bis heute anhält. Vom ersten Tag an wird deutlich, dass er es bitterernst meint mit seiner Ankündigung, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Der neue Bundestrainer macht alles anders als seine Vorgänger – von Mayer-Vorfelder nach Kräften unterstützt, vom Rest der deutschen Fußballfamilie argwöhnisch beäugt oder müde belächelt. Zwei Jahre später heißt es: Abbitte leisten. Denn die Heim-WM 2006 wird trotz der Halbfinalniederlage gegen Italien zum unvergesslichen Sommermärchen.

Der Blick auf Deutschland ist seither ein anderer, aber auch der Blick auf die Nationalmannschaft. Gefürchtet wurde sie bis dahin in aller Welt wegen ihrer Kampfkraft, bewundert wird sie nun für ihr offensives und technisch hochwertiges Spiel, das Joachim Löw zur Blüte führt, nachdem er im Anschluss an die WM 2006 von seinem Mentor Klinsmann das Bundestraineramt übernommen hat.

Was Sie alles zur EM wissen müssen

EM-Finale 2008, WM-Halbfinale 2010 nach den berauschenden Siegen gegen England und Argentinien – zwei Niederlagen gegen Spanien kurz vor dem großen Ziel. Dann die EM 2012, das jähe Halbfinalaus gegen Italien, der tiefe Fall von Joachim Löw, der plötzlich nicht mehr der von allen geliebte Jogi ist, sondern der Trainer, der sich im entscheidenden Moment vercoacht. Und schließlich das tränenreiche Happy End in Brasilien, der erste WM-Titel seit 24 Jahren, der Finalsieg gegen Argentinien im Maracana-Stadion von Rio, dem mythischsten aller Fußballorte.

Es hat in der deutschen Fußballgeschichte viele große Mannschaften gegeben: Die 54er-Helden um Fritz Walter, Franz Beckenbauers 74er-Mannschaft, die von Lothar Matthäus kraftvoll angeführte Weltmeisterauswahl des Jahres 1990. Doch keine hat jemals größer aufgespielt als Löws Team am 8. Juli 2014 beim legendären 7:1 im WM-Halbfinale gegen Brasilien, einem Spiel, das neue Maßstäbe im Weltfußball setzt.

Routiniers sind weg, Jungstars kommen dazu

Kein einzelner Name ist mit diesem Triumph verbunden, sondern eine Mannschaft. Dass sie hinterher keine Freudentänze aufführt, sondern die am Boden zerstörte Gastgebermannschaft tröstet, macht diesen Abend in Belo Horizonte vollends zu einem der bedeutendsten Momente der deutschen Sportgeschichte.

Ist der deutsche 2016er-Jahrgang, der am Sonntag gegen die Ukraine seine EM-Kampagne startet, noch besser als das Weltmeisterteam von 2014?

Es wird schwer möglich sein, noch einen draufzusetzen, unmöglich sogar, noch entfesselter aufzuspielen als gegen Brasilien. Aber sie werden es zumindest probieren. Nach spanischem Vorbild wollen sie einem WM-Titel den Sieg bei einer EM folgen lassen – das ist noch keiner deutschen Mannschaft gelungen. Lahm, Klose und Mertesacker, zentrale Führungsfiguren der vergangenen Jahre, sind zurückgetreten, doch wird das Gerüst auch in Frankreich aus Weltmeistern bestehen, viele von ihnen noch immer im besten Fußballeralter.

Was Sie alles zur EM wissen müssen

Dazu gekommen sind Jungstars wie Leroy Sané, Julian Weigl und Joshua Kimmich, die belegen, dass die Produktion hochbegabter Nachwuchskicker weiter auf Hochtouren läuft. Für Karim Bellarabi und Julian Brandt ist kein Platz mehr im Kader gewesen – auch sie pfeilschnelle und perfekt ausgebildete Spieler, von denen man zu Beginn dieses Jahrtausends nur träumen konnte. Damals schoben sich Leute wie Wörns, Jeremies und Ramelow die Bälle zu.

Angesichts der Masse an Talenten kann sich Löw inzwischen den Luxus erlauben, bei der Auswahl seiner Turnierspieler nicht allein sportliche Kriterien anzulegen, sondern sich auch mit der Frage zu beschäftigen: „Welchen Beitrag kann einer neben dem Feld leisten?“ Auch das ist eines der Erfolgsrezepte dieser Mannschaft, in der es keine Effenbergs mehr gibt, dafür aber Podolskis, die von der Bank aus mitjubeln: Sie harmoniert nicht nur auf dem Rasen, sie lebt, soweit man das von außerhalb der DFB-Quartiere beurteilen kann, nicht nur gelungene Integration vor, sondern auch ausgeprägten Teamgeist. „Kein einzelner Spieler ist wichtiger als die Mannschaft“, sagt der Bundestrainer, der über Zweifel längst erhaben ist.

In jener Juninacht 2004 übrigens, als sich Gerhard Mayer-Vorfelder in Almancil dran macht, den deutschen Fußball neu zu erfinden, ist Löw ein arbeitsloser Trainer, der kurz davor steht, in Vergessenheit zu geraten. Sechs Jahre vorher hat MV ihn beim VfB gefeuert. Er war ihm zu bieder.